Die Landkarte der Zeit
siehst, bin ich unabhängig und abenteuerlustig,
aber , und das mag dich wundern, keineswegs liebestoll. Wenn ich ehrlich sein soll, hätte ich nie gedacht, mich so in jemanden verlieben
zu können, wie ich mich in dich verliebt habe. Ich sah mich vielmehr schon als eine dieser verstaubten Flaschen im Weinkeller,
die darauf warten, zu einer ganz besonderen Gelegenheit entkorkt zu werden, die aber niemals kommt. Das ist wohl mein Charakter,
nehme ich an.
Übermorgen werde ich herkommen, um deinen Brief an mich zu nehmen, mein Geliebter, so wie du es mir gesagt hast. Ich sehne
mich danach, mehr von dir zu erfahren, deine Worte der Liebe zu lesen und zu wissen, dass du mein bist, obwohl ein Ozean von
Zeit zwischen uns liegt.
Für immer dein,
C.
|425| Obwohl ihn das Lesen Mühe kostete, las Tom Claires Brief drei Mal mit derselben ungläubigen Miene, die das Mädchen vorausgesagt
hatte, wenngleich natürlich ganz andere Gründe dafür verantwortlich waren. Als er den Brief ein letztes Mal gelesen hatte,
steckte er ihn in den Umschlag zurück und lehnte sich an den Baum, um seiner Gefühle Herr zu werden. Die Kleine hatte tatsächlich
alles geglaubt! Sie war wirklich zu dieser Stelle gekommen und hatte den Brief dort abgelegt! Als für ihn alles vorbei war,
erkannte er jetzt, hatte es für sie erst begonnen. Jetzt erst dämmerte ihm, wie weit das alles führte. Er hatte mit dem Mädchen
gespielt, ohne darüber nachzudenken, welche Folgen das haben könnte. Jetzt kannte er die Folgen. Der Brief informierte ihn
darüber, und es wäre ihm lieber gewesen, sie nicht zu kennen. Claire hatte nicht nur seinen Lügen geglaubt, sondern die Vereinigung
ihrer Körper war zudem der Windhauch gewesen, der die in ihr schlummernde Liebesglut angefacht und zu einer unkontrollierbaren
Feuersbrunst ausgeweitet hatte. Jetzt drohte sie in diesem Feuer zu verbrennen, und Tom wunderte sich nicht nur darüber, dass
aus ihrer kurzen Begegnung solche Flammen schlagen konnten, sondern dass Claire sogar bereit war, ihr Leben darauf zu verwenden,
sie am Brennen zu halten, wie man ein Lagerfeuer im Wald am Brennen hält, um die Wölfe abzuschrecken. Am meisten erstaunte
ihn allerdings, dass sie das für ihn tat, weil sie ihn liebte. Noch nie hatte ihm jemand eine solche Liebe entgegengebracht.
Es störte ihn nicht im Geringsten, dass dieses Gefühl eigentlich Hauptmann Shackleton galt; denn derjenige, der mit ihr geschlafen
hatte, der sie entkleidet und mit großer Zärtlichkeit genommen hatte, das war er, Tom Blunt. Shackleton war |426| bloß eine Figur, eine Idee. Was Claires Liebe entzündet hatte, war seine Darstellung dieser Figur. Und was fühlte er?, fragte
er sich. Sollte er, nur weil er so rückhaltlos und leidenschaftlich geliebt wurde, ebenso empfinden? Er wusste keine Antwort
auf diese Frage. Andererseits musste er sich den Kopf darüber auch nicht allzu sehr zerbrechen, da man ihn am Ende dieses
Tages wahrscheinlich ohnehin längst umgebracht haben würde.
Versonnen betrachtete er den Brief in seinen Händen. Was sollte er damit machen? Und mit einem Mal wurde ihm klar, dass er
nur eines tun konnte; er musste den Brief beantworten. Nicht weil er die Rolle des Verliebten annehmen wollte, sondern weil
das Mädchen angedeutet hatte, dass es ohne seine Briefe nicht weiterleben konnte. Tom stellte sich vor, wie sie in ihrer Kutsche
ankam, die Anhöhe hinaufhastete und keinen Brief von Hauptmann Shackleton fand. Er war sicher, dass Claire eine solche abrupte
Wendung des Geschehens, ein solch rätselhaftes Schweigen nicht verkraften würde. Er konnte sich leicht vorstellen, wie sie
sich nach einigen Wochen vergeblichen Kommens und Suchens mit derselben Leidenschaft, mit der sie ihn geliebt hatte, das Leben
nehmen, sich vielleicht einen Dolch ins Herz stoßen oder ein ganzes Fläschchen Laudanum austrinken würde. Das konnte Tom auf
keinen Fall zulassen. Ob es ihm gefiel oder nicht, durch sein Spiel war er für das Leben von Claire Haggerty verantwortlich
geworden. Er musste ihren Brief beantworten. Eine andere Wahl hatte er nicht.
Auf dem Weg zurück in die Stadt, als ihm auffiel, dass er querfeldein ging anstatt auf der Straße, dass er beim geringsten |427| Geräusch zusammenzuckte und die Muskeln anspannte, begriff er, dass sich etwas verändert hatte: Er wollte nicht mehr sterben.
Nein, er sehnte den Tod nicht mehr herbei. Nicht, weil ihm sein Leben plötzlich
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