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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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bringen.
    Auf dem langen Weg zum Haus des Schriftstellers, während er zusah, wie die Nacht sich langsam über die Felder legte, und ab
     und zu hinter sich blickte, um sich zu vergewissern, dass Murrays Schläger ihm nicht auf den Fersen waren, ging Tom Blunt
     die verschiedensten Möglichkeiten durch, sich dem Schriftsteller vorzustellen. Am aussichtsreichsten erschien ihm schließlich
     die gewiss auch lächerlichste Art; sich nämlich als Hauptmann Derek Shackleton |430| vorzustellen. Er war sicher, dass der Retter der Welt freundlicher empfangen würde als der unglückliche Tom Blunt, ganz gleich
     zu welcher Tageszeit. Nichts konnte ihn auch hindern, diese Rolle außerhalb der Bühne zu spielen, wie er es ja bereits erfolgreich
     bei Claire getan hatte. Wenn er sich als Shackleton ausgab, konnte er dem Schriftsteller sogar dieselbe Geschichte erzählen,
     die er für Claire erfunden hatte, und sagen, dass er ihren Brief auf seiner ersten Reise in diese Zeit beim Verlassen des
     Zeittunnels gefunden hatte. Warum sollte dieser Wells die Geschichte nicht schlucken; schließlich hatte er doch einen Roman
     über Zeitreisen geschrieben! Um glaubwürdig zu wirken, müsste er sich natürlich eine gute Ausrede einfallen lassen, warum
     er nicht selbst den Brief schrieb oder eine andere Person aus der Zukunft. Nun, er könnte vorbringen, dass im Jahr 2000 kein
     Mensch mehr Briefe schrieb, weil das schon lange vor dem Krieg Aufgabe der Schreibmaschinen geworden war, sodass der Mensch
     seiner Zeit die Fähigkeit des Briefeschreibens vollständig eingebüßt hatte. Wie auch immer; sich als Hauptmann Shackleton
     vorzustellen, schien ihm die beste Strategie zu sein. Es war auf jeden Fall besser, wenn der berühmte Held der Zukunft um
     Hilfe bat, um das Leben seiner Geliebten zu retten, als wenn ein armer Teufel daherkam und den berühmten Schriftsteller aus
     dem Schlaf klingelte, um ihn zu bitten, ihm aus einer Klemme zu helfen, in die ihn seine eigene zügellose Lüsternheit gebracht
     hatte.
    Er erreichte Woking bei Tagesanbruch. Der idyllische Ort lag in tiefer Stille. Fast eine ganze Stunde lang entzifferte Tom
     die Namen auf den Briefkästen, bis er auf einen traf, auf dem der Name Wells stand. Er befand sich vor |431| einem dreistöckigen, von einem nicht allzu hohen Zaun umgebenen Haus, in dem noch kein Licht brannte. Nachdem er das Haus
     des Schriftstellers eine Weile beobachtet hatte, holte Tom tief Luft und betrat das Grundstück. Den Moment weiter hinauszuschieben
     hatte keinen Sinn.
    Er durchquerte das Gärtchen mit vorsichtigen Schritten, als bewege er sich in einer Kapelle, stieg die Stufen zur Haustür
     hinauf und wollte gerade an der Türglocke ziehen, als seine Hand in der Luft innehielt. Der Hufschlag eines Pferdes machte
     die allumfassende Stille zunichte und ließ ihn in der Bewegung erstarren. Ganz langsam drehte er sich dann um und sah, wie
     das Pferd genau vor dem Haus des Schriftstellers anhielt. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als der Reiter, von
     dem er kaum mehr als eine dunkle Silhouette wahrnahm, abstieg und das Gartentörchen öffnete. Einer von Murrays gedungenen
     Mördern? Die Gestalt beantwortete seine Frage mit einer ausholenden Bewegung, die keinen Zweifel aufkommen ließ: Sie hob einen
     Revolver und zielte mitten auf seine Brust. Tom warf sich zur Seite und rollte durch das Gärtchen, bis vollkommene Dunkelheit
     ihn umfing. Er beobachtete, wie der Unbekannte seiner unerwarteten Bewegung mit der Waffe zu folgen suchte, doch Tom hatte
     nicht die Absicht, ihm ein leichtes Ziel zu bieten. Er sprang auf, hastete in wenigen Schritten zum Zaun und kletterte behände
     hinüber. Er war überzeugt, jeden Moment das Eindringen einer Kugel in seinen Rücken zu spüren, doch nichts passierte. Er bewegte
     sich offenbar schneller, als er es für möglich gehalten hätte. Nachdem er die Straße erreicht hatte, rannte er querfeldein
     weiter. Er rannte mindestens fünf Minuten so schnell er konnte, bevor er keuchend stehenblieb und sich |432| einen Blick zurück gestattete, um festzustellen, ob Gilliams Mann ihn verfolgte. Doch in der dichten Dunkelheit, die hier
     herrschte, konnte er nichts erkennen. Für den Augenblick befand er sich in Sicherheit, denn er bezweifelte, dass der andere
     in dieser kompakten Dunkelheit nach ihm suchen würde. Wahrscheinlicher war, dass er nach London zurückritt, um Murray Bericht
     zu erstatten. Allmählich kam Tom wieder zu Atem und

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