Die Landkarte der Zeit
wertvoller war als je zuvor, sondern weil
er den Brief des Mädchens beantworten musste. Er musste am Leben bleiben, damit Claire am Leben blieb.
In der Stadt ging er in ein Papierwarengeschäft und stahl Briefpapier, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihm niemand
folgte und auch keiner von Gilliams Schlägern in der Nähe der Pension herumlungerte, verzog er sich in sein Kabuff in der
Buckeridge Street. Alles schien ruhig. Durchs Fenster drangen die üblichen Straßengeräusche zu ihm herein, die Symphonie des
Alltags, in der er keinen Misston hörte. Also zog er den Stuhl als provisorischen Schreibtisch vor das Bett, breitete Briefpapier,
Tintenfass und Schreibfeder, die er allesamt gestohlen hatte, auf dem Sitz aus und holte tief Luft. Nachdem er eine halbe
Stunde über dem leeren Blatt gegrübelt hatte, wurde ihm klar, dass Schreiben nicht so leicht war, wie er geglaubt hatte. Schreiben
war mühsamer als Lesen, viel mühsamer. Es verblüffte ihn, dass er die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, nicht zu Papier
bringen konnte. Er wusste genau, was er sagen wollte, doch sobald er einen Satz anfing, schweifte er unweigerlich ab und entfernte
sich immer weiter von seinem ursprünglichen Gedanken. Er starrte auf das unlesbare Gewirr von Buchstaben und Streichungen,
die das weiße Blatt Papier verunstalteten. Die einzigen Worte, die bisher einen Sinn ergaben, lauteten: Liebe Claire. Damit
hatte er seinen Brief wohlgemut begonnen, doch was er jetzt vor sich sah, war das rührende Ergebnis eines Halbalphabeten, |428| der seinen ersten Brief zu schreiben versucht. Er zerknüllte das Blatt und ergab sich ins Offensichtliche. Wenn Claire so
einen Brief bekäme, würde sie sich gleich das Leben nehmen, weil sie nicht verstehen könnte, wieso der Retter der Menschheit
schrieb wie ein Schimpanse.
Sosehr er auch wollte, er konnte ihr nicht antworten. Aber die Frau musste in zwei Tagen einen Brief bei der Eiche finden,
sonst würde sie sich das Leben nehmen! Er legte sich aufs Bett und versuchte nachzudenken. Er benötigte Hilfe, so viel war
klar. Er brauchte jemanden, der für ihn den Brief schrieb. Aber wen? Er kannte niemanden, der schreiben konnte. Er konnte
ja schlecht zum ersten Besten gehen, einem Lehrer zum Beispiel, und ihn unter Drohungen zum Schreiben zwingen. Die Person,
die dafür in Frage kam, musste sich nicht nur korrekt ausdrücken können, sondern auch über genügend Vorstellungskraft verfügen,
um die Farce mit der nötigen Anmut weiterzuführen, musste den gleichen leidenschaftlichen Ton treffen wie das Mädchen. Wen
kannte er, der all diese Voraussetzungen erfüllte?
Plötzlich fiel es ihm ein. Er sprang auf, schob den Stuhl zur Seite und zog die unterste Schublade der Kommode auf. Da lag
er, der Roman, wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappend. Er hatte das Buch gekauft, als er bei Murray zu arbeiten
anfing, weil sein Chef ihm gesagt hatte, dank dieses Buches sei sein Unternehmen so erfolgreich. Und Tom, der noch nie ein
Buch gelesen hatte, hatte es sofort gekauft. Es zu lesen war jedoch so mühsam gewesen, dass er über die dritte Seite nie hinausgekommen
war. Trotzdem hatte er es aufbewahrt, weil er ahnte, dass er es diesem Autor verdankte, zu sein, was er jetzt war. Er schlug |429| es auf und sah sich das Foto an. Darunter stand, dass er in Woking, in der Grafschaft Surrey wohnte. Ja, wenn ihm ein Mensch
helfen konnte, dann war es dieser Mann auf dem Foto, dieser Mann mit dem Gesicht eines Vögelchens, der Mann namens H. G. Wells.
Ohne Geld für eine Mietkutsche und ohne die geringste Lust, auf den Zug nach Surrey aufzuspringen und unterwegs entdeckt zu
werden, erkannte Tom, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als zu laufen. Bis Woking brauchte man mit der Kutsche etwa drei
Stunden, zu Fuß würde die Strecke dreimal so lange in Anspruch nehmen. Wenn er sich unverzüglich auf den Weg machte, würde
er also im Morgengrauen ankommen; eine ziemlich unpassende Zeit, um unangemeldet bei jemandem vorstellig zu werden, es sei
denn, es handelte sich um einen Notfall, und das war es ja. Er steckte Claires Brief ein, setzte sich die Mütze auf und machte
sich, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, auf den Weg nach Woking. Er hatte keine andere Wahl, und die Entfernung
schreckte ihn nicht. Er war gut zu Fuß und ausdauernd genug, um diesen gigantischen Spaziergang ohne zu schwächeln hinter
sich zu
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