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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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dir versprechen will,
     geduldig zu sein, kann ich mir doch keine schönere Verkürzung der Wartezeit vorstellen, als ein ums andere Mal zu lesen, was
     ich mit dir in der Zukunft erlebe. Erzähle mir alles, Claire , erzähle mir genau, wie es gewesen ist, unser erstes und einziges Mal, denn ich lechze ebenso nach deinen Worten wie du nach
     meinen, geliebte Claire. Das Leben hier ist nicht einfach, täglich fallen unsere Brüder zu Tausenden, die Maschinenmenschen
     verwüsten alles, was wir aufgebaut haben, als wollten sie jede Spur unserer Existenz auf diesem Planeten auslöschen. Ich weiß
     nicht, was sein wird, wenn ich versage, wenn ich es nicht schaffe, diesen Krieg zu beenden. Aber trotz allem, meine Liebe,
     zeige ich inmitten all der Verwüstung ein lachendes Gesicht, weil mich deine bedingungslose Liebe zum glücklichsten Menschen
     der Welt macht.
     
    D.
     
    Claire presste den Brief an ihre pochende Brust. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt, dass ihr jemand solche Worte schrieb;
     Worte, die ihr den Atem nahmen und ihr Herz erschütterten. Und jetzt war es geschehen. Jetzt sagte ihr jemand, dass er sie
     liebte mit einer Liebe, die über die |465| Grenzen der Zeit hinausging. In einem Schwindelgefühl der Euphorie begann sie, Tom all das zu berichten, was ich Ihnen zu
     erzählen die ganze Zeit vermieden habe, um die Intimität der beiden zu schützen:
     
    Oh, Derek , mein Derek, du kannst nicht wissen, was dein Brief für mich bedeutet hat, weil er «dort» war , wo er sein sollte, aber auch, weil er deine ganze Liebe atmet. Jetzt habe ich keinen Zweifel mehr, dass ich mich vertrauensvoll
     in mein Schicksal fügen kann. Als Erstes will ich deiner Bitte nachkommen, mein Geliebter, und werde keine Sekunde auslassen,
     obwohl ich jetzt schon weiß, dass ich dabei erröten werde. Wie könnte ich dir eine Intimität vorenthalten, die dir genauso
     gehört wie mir? Ja , ich will dir berichten, wie alles gewesen ist; obwohl ich, wenn ich das tue, dir im Grunde damit vorschreibe, was du tun,
     wie du dich verhalten sollst. Sehr merkwürdig ist das alles.
    Wir haben uns in einem Zimmer der Pension Pickard geliebt, die genau gegenüber dem Teesalon liegt. Dorthin werde ich dich
     begleiten, wenn ich mich dazu durchgerungen habe, dir zu vertrauen. Trotzdem wirst du feststellen, dass ich schrecklich ängstlich
     bin, wenn wir den Flur zum gemieteten Zimmer entlanggehen. Und das möchte ich dir gern erklären, mein Geliebter, da ich ja
     jetzt die Gelegenheit dazu habe. In meiner Epoche ist es so, dass gerade in bürgerlichen Familien wie meiner die Mädchen dazu
     erzogen werden, ihre Gefühle zu unterdrücken. Gemeinhin herrscht der Glaube, der intime Akt dürfe nur zum Zweck der Fortpflanzung
     begangen werden, und während der Mann seine Freude an den fleischlichen Gelüsten offen zeigen kann, natürlich immer moderat
     und auf respektvolle Weise, sollen
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wir Frauen vollkommene Gleichgültigkeit an den Tag legen, da unsere Lust als unmoralisch gilt. Diese unabänderliche Haltung
     hat meine Mutter ihr ganzes Leben lang befolgt, und die meisten meiner verheirateten Freundinnen tun das ebenfalls. Aber ich
     bin anders, Derek . Ich habe diese absurde Einschränkung immer genauso gehasst wie die Stickarbeiten, die zum Leben einer gutbürgerlichen Dame
     unweigerlich dazugehören. Ich glaube, dass wir genau wie die Männer das Recht haben, Lust zu empfinden und sie auf eine Weise
     auszudrücken, die wir für angemessen halten. Außerdem glaube ich, dass man nicht verheiratet sein muss, um mit einem Mann
     intim zu sein; mir reicht es, wenn ich ihn liebe. Das sind die Dinge, an die ich glaube, Derek, und während wir über den Flur
     gingen, wurde mir mit einem Mal klar, dass jetzt der Augenblick gekommen war, zu beweisen, ob ich sie in die Praxis umsetzen
     konnte oder ob ich mich die ganze Zeit über nur selbst belogen hatte. Wenn ich also ängstlich war, so lag das allein daran,
     dass ich in diesen Dingen keinerlei Erfahrung hatte.
    Mittlerweile weißt du es, und ich nehme an, dass du mich deswegen so zart und behutsam behandelst; aber wir wollen den Dingen
     nicht vorgreifen. Ich will dir alles nacheinander erzählen, Schritt für Schritt, und ich hoffe, es stört dich nicht, wenn
     ich es in der Zukunftsform tue, weil das alles für dich ja noch nicht passiert ist.
    Das Pensionszimmer wird schlicht und bescheiden, aber anheimelnd und sauber sein. Der Tag neigt sich dem Ende zu, und es wird
     bald

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