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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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als dieses erlosch und Marie Kelly mit träumerisch zur |60| Zimmerdecke gerichtetem Blick vom Frühling in Paris erzählte, wo sie ein paar Jahre als Aktmodell gearbeitet hatte, und von
     ihrer Kindheit in Wales, in Ratcliffe Highway, da begriff Andrew, dass das Gefühl in seiner Brust, etwas, das er noch nie
     zuvor empfunden hatte, Liebe sein musste. Denn ohne es zu wollen, spürte er brav all das, worüber die Dichter immer schrieben.
     Ihn rührte der sehnsuchtsvolle Ton, in dem das Mädchen ihm die unter einem Meer von Petunien und Gladiolen erblühenden Plätze
     in Paris beschrieb, und wie sie bei der Rückkehr nach London alle gedrängt hatte, ihren Namen französisch auszusprechen, da
     sie keine andere Möglichkeit gefunden habe, jene fernen Düfte für sich zu bewahren, die ihr die Widrigkeiten der Welt versüßten.
     Ebenso aber bewegte ihn der Hauch von Untröstlichkeit, der in ihrer Stimme schwang, als sie ihm beschrieb, wie Piraten in
     Ratcliffe Highway so an der Themsebrücke aufgehängt wurden, dass sie bei steigender Flut ertrinken mussten. Aber so war Marie
     Kelly: ein Gegensatz von süßer und bitterer Haut, ein verirrter Treffer der Natur, reiner Zeitvertreib des Schöpfers. Als
     sie Andrew fragte, welcher Art von Arbeit er nachging, die ihm offenbar so viel eintrug, dass er sie für den Rest ihres Lebens
     kaufen könnte, da beschloss er, das Risiko einzugehen und ihr die Wahrheit zu sagen, weil diese Liebe, sollte sie erblühen,
     nur unter der Wahrheit Bestand haben oder keinen Bestand haben würde; aber auch weil ihm die Wahrheit – die Art, wie ihn das
     Gemälde in Bann geschlagen und zu dieser absurden Suche getrieben hatte, in eine Welt, die so anders war als seine, und dass
     er sie dort tatsächlich gefunden hatte – so wunderbar und außergewöhnlich vorkam wie die unmögliche Liebe, von der man |61| in Romanen las. Als ihre Leiber sich aufs Neue suchten, wusste er, dass es keine Verrücktheit gewesen war, sich in sie zu
     verlieben, sondern vielleicht das Vernünftigste, was er je im Leben getan hatte. Als er mit der Erinnerung ihrer Haut auf
     seinen Lippen das Zimmer verließ, versuchte er möglichst nicht Joe, ihren Mann, anzusehen, der vor Kälte zusammengekrümmt
     an der Hauswand lehnte.
    Als Harold ihn zu Hause ablieferte, war es schon früher Morgen. Viel zu erregt, um ins Bett zu gehen, und wäre es auch nur,
     um an die mit Marie Kelly verbrachten Stunden zurückzudenken, begab sich Andrew zu den Ställen und sattelte eines der Pferde.
     Er war lange nicht mehr durch den Hyde Park geritten, schon gar nicht im Morgengrauen, seiner Lieblingstageszeit, zu der die
     Wiesen noch taufeucht waren und die Welt noch von keinem Menschen betreten worden zu sein schien. Es wäre dumm gewesen, die
     Gelegenheit verstreichen zu lassen. Kurz darauf galoppierte Andrew durch den Wald, der sich vor Harrington Mansion erstreckte,
     lachte in sich hinein und stieß hin und wieder einen Jubelschrei aus wie ein Soldat, der sich über eine gewonnene Schlacht
     begeisterte, denn genau so fühlte er sich, wenn er an den Blick voller Liebe dachte, mit dem Marie Kelly dem seinen begegnet
     war, als sie sich bis zum nächsten Abend voneinander verabschiedet hatten.
    Als hätte sie in seinen Augen gelesen, dass er seit Jahren nach ihr suchte, ohne es zu wissen. Ein Blick ist ein Brunnenschacht
     ohne Grund, in dem Platz für alles ist. Und so ritt Andrew in wilder Erregung, zum ersten Mal von einer bebenden, heißen Gefühlswallung
     übermannt, die man gerechterweise bei ihrem Namen nennen sollte: Glück. Und unter dem Eindruck solch furchtbarer Verliebtheit |62| schien jedes Stück des Universums, mit dem er in Berührung kam, zu strahlen, als würde jedes einzelne seiner Bestandteile,
     die von Laub gepolsterten Wege, die Steine, Sträucher, Bäume, sogar die zwischen ihren Ästen umherspringenden Eichhörnchen
     von einem inneren Licht erleuchtet. Doch glauben Sie bitte nicht, dass ich mich jetzt in einer Beschreibung von Hektaren überspannter
     und strahlender Parklandschaft verlieren werde, da dies weder mein Begehr ist noch der Wahrheit entspräche, denn trotz seiner
     entstellten Sicht hatte sich die Landschaft, durch die Andrew ritt, nicht im Geringsten verändert. Das galt auch für die Eichhörnchen,
     die ja ohnehin nicht dazu neigen, sich irremachen zu lassen.
    Nach über einer Stunde ununterbrochenen und glücklichen Galopps wurde Andrew klar, dass er fast noch den ganzen Tag vor

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