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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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sich
     hatte, bevor er wieder das ärmliche Lager mit Marie Kelly teilen konnte. Er musste sich also nach einer Beschäftigung umsehen,
     die ihn von dem quälenden Gefühl erlöste, welches ihn zweifellos überkommen würde, wenn er feststellte, dass die Zeit trotz
     der gegenwärtigen Umstände – oder vielleicht gerade ihretwegen – nicht schneller verging, sondern ihr Verstreichen boshafterweise
     noch verlangsamte. Er beschloss, seinen Cousin Charles aufzusuchen. Im Vergleich zu ihm war Andrew sein Glück stets stumpf
     erschienen. Er beabsichtigte jedoch nicht, ihm auch nur das Geringste zu erzählen. Interessant wäre höchstens, festzustellen,
     wie sich Charles im Licht seines brennenden Blicks verhielt; ob der Cousin, wie die Eichhörnchen, zu strahlen begänne.

|63| IV
    Im Speisezimmer der Winslows war das Frühstück für den jungen Charles gedeckt, der sich wohl noch im Bett rekelte. An einem
     der großen Fenster stand ein riesiger Tisch, auf dem die Bediensteten ein Dutzend Teller mit Brötchen, Hörnchen und Marmeladen
     sowie mehrere Karaffen mit Grapefruitsaft und Milch angerichtet hatten. Das meiste davon würden sie fortwerfen, denn entgegen
     dem Anschein würde sich kein ganzes Regiment darüber hermachen, nicht einmal sein Cousin, der in seiner bekannten morgendlichen
     Appetitlosigkeit höchstens hier und da ein Teilchen anknabbern und das allein für ihn aufgefahrene verschwenderische Mahl
     im Übrigen unangetastet stehenlassen würde. Andrew wunderte sich über seine plötzliche Befangenheit angesichts dieser Verschwendung
     von Nahrungsmitteln, da die vollgehäuften Tische, die niemand leer aß, sowohl hier als auch bei ihm zu Hause seit Jahren ein
     vertrautes Bild für ihn waren. Er begriff, dass diese ungewöhnliche Reaktion die erste von vielen ähnlichen sein würde, die
     seine Besuche in Whitechapel hervorriefen, wo die Menschen imstande waren, für die Krumen eines Brötchens, an dem sein Cousin
     lustlos knabberte, einander umzubringen. Wurde außer seinen Gefühlen etwa auch sein soziales Gewissen |64| geweckt? Für Ersteres gab es nicht den geringsten Zweifel; aber an Zweites glaubte Andrew nicht so recht, da er zu jenen Menschen
     gehörte, denen die Pflege des inneren Gartens kaum Zeit lässt, sich um das zu sorgen, was draußen auf der Straße passiert.
     In diesem speziellen Fall war er voll und ganz damit beschäftigt, das Rätsel seiner selbst zu lösen, sein Feingefühl und seine
     Reaktionen abzuhorchen und seinen Geist, dieses sonderbare Instrument, so lange zu stimmen, bis er mit dem Klang zufrieden
     war. Es war eine Aufgabe, die ihm aufgrund der unablässigen und zum Teil auch recht willkürlichen Neugestaltung seiner Denkmuster
     manchmal ebenso unmöglich erschien, wie es ein Vorhaben wäre, Fische im Teich in Marschformation auszurichten. Er ahnte jedoch,
     dass er es schaffen musste, bevor er sich um das Geschehen in der Welt kümmern konnte, welches für ihn dort begann, wo sein
     bekömmliches und wohlbehütetes Alltagsleben aufhörte. Spannend wäre es auf jeden Fall, zu beobachten, wie sich, nur weil er
     ihnen nahegekommen war, bislang völlig unbekannte Sorgen in ihm einnisteten. Und, wer weiß, vielleicht würde er in seiner
     Reaktion auf derlei Kümmernisse sogar die Lösung jenes alten Rätsels finden, das Andrew Harrington für ihn war.
    Er nahm einen Apfel aus der Früchteschale und setzte sich in einen Sessel, um wieder einmal darauf zu warten, dass sein Cousin
     in die Welt der Lebenden zurückkehrte. Am Apfel knabbernd, die lehmverschmierten Stiefel auf einem Schemel aufgestützt, dachte
     er lächelnd an Marie Kellys Küsse, an die süße und erschöpfende Art, in der sie beide sich an jahrelangem Hunger nach Liebe
     schadlos gehalten hatten, als sein Blick auf die Zeitung fiel, |65| die auf dem Tisch lag. Es handelte sich um die Morgenausgabe des
Star
, der in großen Schlagzeilen den Mord an Anne Chapman verkündete, einer Prostituierten aus Whitechapel. In allen Einzelheiten
     wurden die brutalen Amputationen beschrieben, die an ihr vorgenommen worden waren: Außer der Gebärmutter, wie Marie Kelly
     ihm schon erzählt hatte, waren ihr auch Harnblase und Vagina herausgeschnitten worden. Des Weiteren wurde berichtet, dass
     an einem ihrer Finger zwei billige Ringe fehlten. Die Polizei schien keinerlei Anhaltspunkte über die Identität des Mörders
     zu haben, allerdings war bei den Verhören der Huren aus dem West End der Name eines

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