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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Kellerloch oder sonst ein ungelüftetes Kabuff bezahlen zu
     können. Eigentlich wundert es mich, dass nicht noch mehr Morde und Überfälle begangen werden, wenn man bedenkt, wie viele
     ungestraft bleiben. Wären die Verbrecher irgendwie organisiert, gehörte ihnen London, Andrew, daran gibt es keinen Zweifel.
     Kein Wunder, dass die Königin einen Volksaufstand fürchtet, eine Revolution von der Art, wie sie bei unseren französischen
     Nachbarn stattgefunden hat und bei der sie und ihre Familie unter der Guillotine enden würden. Das ganze Empire ist doch bloß
     noch eine Fassade, die immer neue Stützen braucht, um nicht zusammenzubrechen. Unsere Schafe und Rinder grasen in Argentinien,
     unser Tee wird von den Chinesen und Indern angebaut, das Gold kommt aus Südafrika und Australien, und den Wein, den wir trinken,
     holen wir uns aus Spanien und Frankreich. Sag mir eines, lieber Cousin, was ist eigentlich noch wirklich englisch, außer der
     Kriminalität? Mit einem gut organisierten Aufstand könnten die Ganoven das Land übernehmen, Andrew. Gott sei Dank gehen Verbrechen
     und gesunder Menschenverstand selten Hand in Hand.»
    Andrew hörte seinem Cousin mit Genuss zu. Er mochte es, wenn der auf diese missmutige Art vom Leder zog und dabei tat, als
     nähme er seine eigenen Worte nicht ernst. Im Grunde bewunderte er seinen widersprüchlichen Geist, der ihn an ein Haus denken
     ließ, das in endlos viele Zimmer unterteilt war, die nicht verbunden waren, sodass das, was in dem einen passierte, keinerlei
     Auswirkung auf die übrigen Zimmer hatte. Darum war sein Cousin imstande, inmitten des Reichtums, der ihn umgab, auch die schwärenden |69| Wunden des Elends wahrzunehmen, sie aber gleich darauf wieder zu vergessen, während er, Andrew, um ein Beispiel zu nennen,
     keinen erfolgreichen Beischlaf zustande bringen konnte, wenn er kurz vorher einen Schlachthof oder ein Behindertenheim besucht
     hatte. In Andrews Innerem, das wohl nach dem Ebenbild eines Schneckenhauses erschaffen worden war, verlor sich alles und hallte
     nach. Das war es, was sie im Grunde voneinander unterschied und ergänzte: Charles dachte, er fühlte.
    «Jedenfalls machen diese brutalen Verbrechen Whitechapel zu einer Gegend, in der man besser nicht die Nacht verbringt, mein
     lieber Cousin», sagte Charles, indem er seine unbekümmerte Pose aufgab, sich über den Tisch beugte und Andrew bedeutungsvoll
     ansah. «Schon gar nicht mit einer Nutte.»
    Andrew starrte ihn an, ohne seine Überraschung verbergen zu können.
    «Du weißt davon?», fragte er.
    Charles lächelte.
    «Dienstboten schwatzen, Andrew. Du müsstest wissen, dass unsere intimsten Geheimnisse wie unterirdische Flüsse unter den luxuriösen
     Böden dahinströmen, auf denen wir gehen», sagte er und tippte angelegentlich mit der Schuhspitze auf den Teppich.
    Andrew seufzte. Sein Cousin hatte die Zeitung nicht zufällig dort liegenlassen. In Wirklichkeit hatte er wahrscheinlich nicht
     einmal geschlafen. Charles liebte solche Spielchen. Man konnte sich leicht vorstellen, wie er sich hinter einer der spanischen
     Wände verborgen hatte, die das riesige Speisezimmer unterteilten, und geduldig darauf wartete, dass sein verträumter Cousin
     in die von ihm |70| gestellte Falle tappte, wie es dann ja auch geschehen war.
    «Ich will nicht, dass mein Vater davon erfährt, Charles», bat er.
    «Sei unbesorgt. Ich weiß, welchen Aufruhr das in der Familie bewirken würde. Aber sag mir: Bist du in die Kleine verliebt,
     oder ist das nur eine Laune?»
    Andrew schwieg. Was konnte er ihm sagen?
    «Du brauchst nicht zu antworten», sagte sein Cousin mit resignierter Stimme. «Ich fürchte, ich würde keine der beiden Antworten
     verstehen. Ich hoffe nur, du weißt, was du tust.»
     
    Andrew wusste zweifellos nicht, was er tat, aber er konnte nicht damit aufhören. Wie eine Motte, die es zum Licht zieht, eilte
     er jede Nacht zu dem erbärmlichen Zimmerchen in Miller’s Court und brannte willenlos in dem unkontrollierten Feuer namens
     Marie Kelly. Sie liebten sich die ganze Nacht, besessen von einem unaufhaltsamen Verlangen, als hätten sie ein vergiftetes
     Essen zu sich genommen und wüssten nicht, wie lange sie noch zu leben hätten, oder als würde außerhalb ihres Zimmers die ganze
     Welt im Todesreigen der Pest zugrunde gehen. Und wenn er genügend Münzen auf ihr Nachtschränkchen legte, erkannte Andrew bald,
     dann konnten sie beide über das Morgengrauen hinaus zärtlich

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