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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Street dafür verantwortlich
     war, die von den Huren einen Teil der Einnahmen forderte.
    «Diese Schweinehunde werden nicht eher aufhören, als bis wir alle für sie arbeiten», knurrte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
    Andrew war über das Geschehen zwar zutiefst betroffen, doch wundern brauchte man sich nicht; sie waren schließlich in Whitechapel,
     diesem gärenden Misthaufen, dem London den Rücken zukehrte, der überschwemmt war mit über tausend Prostituierten, die meisten
     von ihnen deutsche, jüdische und französische Einwanderinnen. Messerstechereien waren an der Tagesordnung, das war normal.
     Marie Kelly tupfte sich ein paar Tränen ab, die ihr am Ende in die Augen getreten waren, und verharrte einige Minuten in konzentriertem
     Schweigen, als spreche sie ein Gebet, bis sie zu Andrews Erstaunen aus ihrer Lethargie auffuhr, seine Hand ergriff und ihn
     lüstern anlächelte. Das Leben ging weiter. Mochte passieren, was wollte, das Leben ging weiter. War es das, was sie ihm damit
     sagen wollte? Immerhin war Marie Kelly nicht ermordet worden, sie musste weiter in diesem stinkenden Viertel leben, durch
     die Straßen streunen auf der Suche nach Geld für ein Bett |58| in der Nacht. Mitleidig betrachtete Andrew die Hand mit den eingerissenen Fingernägeln, die jetzt verlassen auf der seinen
     ruhte. Er musste sich konzentrieren, um die Maske zu wechseln, wie ein Schauspieler, der ein paar Minuten der Konzentration
     in seiner Garderobe braucht, um sich in jemand anderen zu verwandeln, bevor er auf die Bühne tritt. Schließlich ging auch
     für ihn das Leben weiter. Die Ermordung einer Nutte hielt den Lauf der Welt nicht auf. Also streichelte er zärtlich die Hand
     der Frau und rief sich seinen Plan in Erinnerung. Wie jemand, der eine beschlagene Fensterscheibe sauber wischt, befreite
     er sein galantes Lächeln vom Schleier der Betrübnis und schaute dem Mädchen zum ersten Mal offen ins Gesicht.
    «Ich habe genug Geld, um dich für eine ganze Nacht zu kaufen, aber ich will keine Tricks in einem kalten Hinterhof mehr.»
    Marie Kelly war überrascht und nahm auf ihrem Stuhl eine gespannte Haltung an, doch das Lächeln, das ihr Andrew schenkte,
     beruhigte sie.
    «Ich habe ein Zimmer in Miller’s Court gemietet, aber ich bin nicht sicher, ob es Ihren Vorstellungen entspricht», erwiderte
     sie kokett.
    «Ich bin sicher, dass du dafür sorgst, dass es mir gefällt», getraute sich Andrew zu antworten; erfreut über den anzüglichen
     Ton, den ihr Gespräch noch angenommen hatte und den er perfekt beherrschte.
    «Vorher muss ich aber noch meinen Taugenichts von Mann rauswerfen», entgegnete die junge Frau. «Der hat es nicht gern, wenn
     ich mir Arbeit mit nach Hause nehme.»
    Für Andrew war die Antwort eine weitere Überraschung jener ungewöhnlichen Nacht, die er eindeutig nicht in den |59| Griff bekam. Er versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
    «Aber ich bin sicher, dass dein Geld ihn überzeugt», sagte Marie Kelly mit spitzbübischem Grinsen.
     
    So entdeckte Andrew, dass das Paradies in dem elenden Zimmerchen lag, in dem er sich nun befand. Diese Nacht veränderte alles
     zwischen ihnen. Andrew liebte sie mit solcher Hingabe, streichelte ihren endlich nackten, ausgestreckten Körper mit solcher
     Zärtlichkeit, dass Marie Kelly ihre starre Rüstung brüchig werden spürte, die sie sich über so lange Zeit angepasst hatte,
     um ihre Seele zu schützen, diese kalte Schicht von Raureif, die jeden hinderte, ihre Haut zu ergründen, die nichts an sich
     heranließ, das sie verletzen konnte. Die Küsse, deren Spuren Andrew wie süße Pusteln auf ihrem Leib hinterließ, führten dazu,
     dass ihr Steicheln immer weniger mechanisch wurde und sie sich bald schon nicht mehr als Hure im Bett fühlte, sondern als
     die nach Zärtlichkeit dürstende Frau, die zu sein sie niemals aufgehört hatte. Auch Andrew erkannte, dass seine Liebkosungen
     allmählich die wahre Marie Kelly zum Vorschein brachten, so, als würde er sie aus einem der Wassertanks heben, in denen die
     Theatermagier ihre an Händen und Füßen gefesselten hübschen Assistentinnen versenkten. Und sein Orientierungssinn schien so
     vollkommen ausgeprägt, dass er ihn davor bewahrte, sich im Labyrinth zu verirren, wie es Liebhabern oft geschah, und ihn dorthin
     gelangen ließ, wohin sonst niemand kam, in eine Art verschlossener Kammer, in der das wahre Wesen des Mädchens aufgehoben
     war. Sie brannten im selben Feuer, und

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