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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Verdächtigen aufgetaucht, eines jüdischen
     Schusters mit dem Spitznamen Lederschürze, der schon einige von ihnen mit dem Messer bedroht und ausgeraubt hatte. Die Notiz
     wurde durch eine düstere Illustration ergänzt, auf der man einen Polizisten sah, der mit seiner Laterne den blutüberströmten
     Leib einer Frau in der Gosse beleuchtete. Andrew schüttelte den Kopf. Er hatte vergessen, dass sein Paradies mitten in der
     Hölle lag und dass die Frau, die er liebte, ein Engel im Reich von Dämonen war. Aufmerksam las er die drei Seiten, auf denen
     über die bislang in Whitechapel verübten Morde berichtet wurde. Dabei hatte er das Gefühl, dass ihn das alles nichts anging,
     wie er da in diesem luxuriösen Speisezimmer saß, in dem die Schäbigkeit und Abartigkeit, zu der der Mensch fähig war, so fern
     waren wie jedes von den Bediensteten penibel fortgewischte Stäubchen. Er hatte daran gedacht, Marie Kelly genügend Geld zu
     geben, damit sie die Erpresser ruhigstellen konnte, die sie für die Morde verantwortlich machte, doch die Zeitungsmeldungen
     deuteten nicht in |66| diese Richtung. Aus den präzisen Schnitten, die die Opfer aufwiesen, schloss die Polizei, dass der mutmaßliche Mörder chirurgische
     Kenntnisse hatte, was die meisten Ärzte in den Kreis der Verdächtigen einschloss, aber ebenso auch Kürschner, Köche, Barbiere
     und im weitesten Sinne jeden, der mit einem Messer umzugehen verstand. Es wurde auch berichtet, der Astrologe der Königin
     habe das Gesicht des Mörders in Trance erblickt. Andrew seufzte. Der Astrologe kannte mehr vom Mörder als er, der wenige Augenblicke
     vor dem Verbrechen mit ihm zusammengestoßen war.
    «Seit wann interessiert dich das Wohl und Weh des Empires, Cousin?», fragte hinter ihm ein lächelnder Charles. «Ah, ich sehe,
     die Sensationsmeldungen haben es dir angetan.»
    «Guten Morgen, Charles», begrüßte ihn Andrew und warf die Zeitung auf den Tisch, als habe er nur aus Langeweile darin geblättert.
    «Welche Aufmerksamkeit man den Morden an diesen armen Nutten schenkt, unglaublich», bemerkte Charles, der sich eine Handvoll
     glänzender Weintrauben aus der Fruchtschale nahm und sich seinem Cousin gegenüber auf einen Stuhl setzte. «Obwohl ich zugeben
     muss, dass mich die Bedeutung, die man dieser unerfreulichen Angelegenheit beimisst, neugierig macht. Sie haben Fred Abberline,
     den schärfsten Spürhund von Scotland Yard, mit der Untersuchung beauftragt. Das heißt, dass der Fall für die Metropolitan
     Police eine Nummer zu groß ist.»
    Andrew tat, als schaue er zerstreut aus dem Fenster und dem Wind dabei zu, wie er eine zeppelinförmige Wolke zerpflückte.
     Er wollte sich nicht übermäßig interessiert |67| an dem Fall zeigen, damit sein Cousin keinen Verdacht schöpfte, doch im Grunde brannte er darauf, alles über diese Verbrechen
     zu erfahren, die sich offenbar auf das Viertel beschränkten, in dem seine Geliebte wohnte. Was würde Charles sagen, wenn er
     ihm erzählte, dass er in der vergangenen Nacht in einer finsteren Gasse in Whitechapel mit dem Mörder zusammengestoßen war?
     Traurig war nur, dass er trotzdem nichts über ihn sagen konnte, außer dass er von riesiger Gestalt war und bestialisch gestunken
     hatte.
    «Aber auch wenn Scotland Yard sich damit befasst, gibt es bis jetzt nur Vermutungen, zum Teil von der lächerlichsten Art»,
     fuhr sein Cousin fort, riss eine Traube ab und spielte mit ihr zwischen den Fingern. «Wusstest du, dass man einen der Indianer
     aus Buffalo Bills Wild West Show verdächtigte, die wir letzte Woche gesehen haben? Und sogar den Schauspieler Richard Mansfield,
     der im Opernhaus den
Dr.   Jekyll und Mr.   Hyde
spielt. Ein Stück, das ich dir übrigens sehr empfehlen kann. Wie Mansfield sich auf der Bühne verwandelt, das ist wirklich
     schaurig.»
    Andrew versprach, hinzugehen, und warf seinen Apfelrest auf den Tisch.
    «Na ja», Charles schien das Thema abschließen zu wollen, «die armen Teufel von Whitechapel haben Bürgerwehren gebildet, die
     durch die Straßen patrouillieren. London wächst dermaßen schnell, dass die Polizeikräfte nicht imstande sind, ihren Pflichten
     nachzukommen. Alle Welt will in dieser verdammten Stadt leben. Aus den abgelegensten Grafschaften kommen die Leute auf der
     Suche nach einem besseren Leben, um dann in irgendeiner Fabrik ausgebeutet zu werden, wo sie sich Typhus einfangen oder sich
     zu |68| Verbrechen hinreißen lassen, um die astronomische Miete für ein

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