Die Landkarte der Zeit
allem, wenn man sich ihr im beengten Innern
einer Kutsche ausgesetzt sah.
«Was ich mit meinem Roman beabsichtige, Mr. James», erklärte der Ire gestikulierend, «ist eine grundlegend neue Darstellung des menschgewordenen Bösen in der Gestalt
des eleganten Vampirs, frei von der Last der ganzen romantischen Kitschästhetik, die ihn im Lauf der Jahre zu einem lächerlichen
Satyr gemacht hat, der seinen Opfern kaum mehr als einen lustvollen Schrecken einzujagen vermag. Der Vampir meines Romans
ist furchteinflößend, und ich habe ihn mit allen aus dem Mythos bekannten Attributen ausgestattet. Die eine oder andere Kleinigkeit
habe ich allerdings eigenmächtig hinzugefügt, wie zum Beispiel seine Unfähigkeit, sich in einem Spiegel zu reflektieren.»
«Aber wenn Sie dem Bösen eine Gestalt geben, verliert es doch einen Großteil seiner Geheimnisse und auch seiner Macht, Mr. Stoker!», rief James beinahe beleidigt, |642| sodass sein Kollege erstaunt aufsah. «Das Böse muss subtil dargestellt werden, es muss ein Kind des Ungewissen bleiben, im
diffusen Grenzbereich zwischen Zweifel und Tatsächlichkeit zu Hause sein.»
«Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen, Mr. James», murmelte der Ire, als der andere sich wieder beruhigt zu haben schien.
James stieß einen langen Seufzer aus und begann, weiter über das wenig fassbare Thema zu dozieren, doch aus Stokers verständnisloser
Miene schloss Wells, dass der Ire in einen immer grundloseren Sumpf von Verständnislosigkeit versank, je länger James redete.
Als sie endlich vor Stokers Haus hielten, stieg ein rothaariger Riese aus der Kutsche, der ganz den Eindruck machte, als wisse
er überhaupt nicht, wo er sich eigentlich befand. Nach Stokers Weggang saßen sich Wells und James in unbehaglichem Schweigen
gegenüber. Einem Schweigen, das der wohlerzogene James jedoch mit leichter Konversation über die verschiedenartigen Möglichkeiten
der Polsterung von Kutschensitzen artig zu überbrücken verstand.
Endlich allein, hob Wells in dankbarer Erleichterung die Hände zum Himmel und überließ sich nun ganz seinen grüblerischen
Gedanken, während die Kutsche den Ausläufern der Stadt zustrebte. Es gab so vieles zu überdenken. Wirklich wichtige Dinge,
von den Nachrichten aus der Zukunft, die sie an den Schnüren aufgehängt gesehen hatten und von denen er nicht wusste, ob man
sie besser vergaß oder im Gedächtnis behielt, bis zu der faszinierenden Vorstellung, dass tatsächlich jemand die Zeit kartographiert
hatte, als wäre sie ein physischer Raum. Zudem handelte es sich dabei ja um eine Ausdehnung, die niemals ganz würde |643| erfasst werden können, da das Ende der weißen Kordel stets im Ungewissen bleiben würde. Oder vielleicht nicht? Was, wenn die
Zeitreisenden die Zukunft so weit durchdrungen hätten, dass sie bis an deren Grenzen gestoßen wären? Endete die Zeit an irgendeinem
Punkt, oder ging sie endlos weiter? Wenn überhaupt, müsste das Ende der Zeit in dem Augenblick zu finden sein, in dem der
Mensch ausstürbe und es auch keine anderen Lebewesen auf der Welt mehr gäbe, denn was wäre die Zeit, wenn niemand mehr sie
messen und ihren Verlauf dokumentieren könnte? Zeit zeigte sich nur im verdorrten Laub, in vernarbten Wunden, im sich ausbreitenden
Rost und in erschöpften Herzen. Wenn niemand mehr existierte, der dies alles erlebte, dann war die Zeit ein Nichts, ein vollkommenes
Nichts.
Wenn es aber Parallelwelten gab, würde es auch immer jemanden geben, der das Vergehen der Zeit bezeugte. Und die Parallelwelten
existierten zweifellos, darüber bestand ja jetzt Gewissheit. Bei der geringsten Veränderung der Vergangenheit zweigten sie
vom ursprünglichen Universum ab wie Äste von einem Baum, so hatte er selbst es vor knapp drei Wochen dem jungen Andrew Harrington
erklärt.
Er rief sich die Landkarte in Erinnerung, die der Zeitreisende ihnen gezeigt hatte, jenes Gespinst aus farbigen Schnüren,
das die Parallelwelten zeigte, die Marcus hatte korrigieren müssen. Und da begriff er, dass diese Karte unvollständig war,
da sie nur die Parallelwelten zeigte, die durch den direkten Eingriff der Zeitreisenden entstanden waren. Aber was war mit
unserem eigenen Tun? Parallelwelten entstanden ja nicht nur durch verbotene Eingriffe in die unantastbare Vergangenheit, sondern
ebenso durch jede einzelne Entscheidung, die von den Menschen getroffen |644| wurde. Er stellte sich die so
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