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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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eigenhändig die begehrte Beute übergebt. Danach wird
     er einem seiner Leibwächter ein Zeichen geben, woraufhin dieser auf den armen James schießen wird. Du weißt, was diese Waffen
     beim menschlichen Körper anrichten, daher kann ich dich mit Einzelheiten verschonen, aber die Vorstellung von deinem mit Blut
     und Eingeweiden bespritzten Anzug dürfte dir nicht schwerfallen. Noch bevor ihr reagieren könnt, wird der Mann herumwirbeln
     und einen weiteren Schuss abfeuern, diesmal auf den überraschten Stoker, den dasselbe Schicksal ereilt wie den Amerikaner.
     Starr vor Angst wirst du ihn dann die Waffe auf dich richten sehen, doch Marcus wird ihm mit einer sanften Handbewegung Einhalt
     gebieten, bevor er abdrücken kann.
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Er tut das, weil er dich hoch genug schätzt, um dich nicht sterben zu lassen, ohne dass du erfährst, warum . Immerhin bist du der Autor des Romans
Die Zeitmaschine,
der die Zeitreisen in Mode gebracht hat. Da schuldet er dir wenigstens eine Erklärung, und so macht er sich, bevor der Leibwächter
     dich tötet, die Mühe, dir die Wahrheit zu berichten, wenn auch nur aus dem Grund, sich selbst erzählen zu hören, wie er euch
     drei aufs Kreuz gelegt hat. Mit diesen lächerlichen Trippelschritten in der Halle auf und ab gehend, wird er dir gestehen,
     dass er gar kein Zeitwächter ist und nur durch Zufall von der Existenz der Bibliothek der Wahrheit erfahren hat und eigentlich
     auch gar nicht gewusst hat, dass die Vergangenheit vom Staat geschützt wird.
    Marcus war ein exzentrischer Millionär, einer von denen, die mit der Attitüde «Was kostet die Welt?» durchs Leben gehen. Als
     die Regierung das Zeitministerium schuf, gehörte er zu denen, die auf besondere Fähigkeiten getestet worden waren; etwas , das ihn nicht sonderlich gestört hatte, obwohl er sich da mit unstandesgemäßen Individuen hatte abgeben müssen. Was bedeutete
     das schon, wenn man dafür Informationen über die Krankheit bekam – als solche hatte er die zwei Zeitsprünge betrachtet, denen
     er in Augenblicken hoher Anspannung ausgesetzt gewesen war – und dabei vor allem die vielversprechenden Möglichkeiten erkannte,
     die sie einem boten. Als das Ministerium aufgelöst wurde, vervollkommnete Marcus seine Fähigkeiten, die er mit beachtlicher
     Meisterschaft gezielt einzusetzen gelernt hatte. Eine Zeitlang vergnügte er sich mit willkürlichen Zeitsprüngen in die Vergangenheit
     und reiste durch die Jahrhunderte, bis es ihn langweilte, an historischen Seeschlachten teilzunehmen, Hexen auf Scheiterhaufen
     zu verbrennen und
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ägyptische Sklavinnen mit seinem Zukunftssamen zu beglücken. Er hatte nämlich entdeckt, dass er seine Fähigkeiten dazu nutzen
     konnte, seine Leidenschaft für seltene Bücher bis in die unvorstellbarsten Extreme zu treiben. In seinem  schlossähnlichen
     Anwesen beherbergte Marcus eine wohlgefüllte Bibliothek, die einen wahren Schatz an seltenen Erstausgaben und Inkunabeln aus
     dem 16.   Jahrhundert enthielt, doch kam ihm diese Ansammlung von Büchern mit einem Mal lächerlich und wertlos vor. Was hatte er davon,
     eine Erstausgabe von
Childe Harolds Pilgerfahrt
von Lord Byron zu besitzen, wenn seine Augen letzten Endes doch nur über Verse wanderten, die jedem anderen ebenfalls zugänglich
     waren? Etwas ganz anderes wäre es, wenn er das einzige Exemplar besäße, das es auf der Welt gab. Das wäre dann, als hätte
     der englische Dichter dieses Buch allein für ihn geschrieben. Dies zu erreichen wäre mit seinen neu erworbenen Fähigkeiten
     ein Kinderspiel. Wenn er in die Vergangenheit reiste und einem seiner Lieblingsautoren ein Romanmanuskript stahl, bevor dieses
     veröffentlicht wurde, und ihn danach umbrachte, könnte er sich eine exklusive Bibliothek aus Werken aufbauen, die für den
     Rest der Welt niemals existieren würden. Für eine private Literaturgeschichte in seiner Bibliothek ein paar Schriftsteller
     umzubringen stellte für ihn überhaupt kein Problem dar, denn Romane, die ihm gefielen, hatte Marcus stets als frei in der
     Welt schwebend betrachtet, losgelöst von ihren Verfassern, die ja nur Menschen waren und als solche gemeinhin Abschaum. Außerdem
     war es für Skrupel ohnehin zu spät, denn auch sein riesiges Vermögen hatte er oft genug mit Methoden vermehrt, die man nach
     der herrschenden Moral als verbrecherisch einstufen würde. Zum Glück musste er
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sich nicht an den Moralvorstellungen der Menschen messen lassen, denn er hatte sich

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