Die Landkarte der Zeit
Romanen trägt den Titel
Bis zum Äußersten
», fuhr Marcus, an den Amerikaner gewandt, fort. «Kommt Ihnen der Titel bekannt vor, Mr. James?»
Henry James starrte ihn sprachlos an.
«Bestimmt», sagte Marcus. «Wie Sie an der Reaktion Ihres Kollegen sehen können, handelt es sich um den Roman, den Mr. James gerade abgeschlossen hat; eine köstliche Gespenstergeschichte, die zum Klassiker werden wird.»
Trotz seiner vollendeten Fähigkeit, Gefühle zu verbergen, gelang es James nicht, den Ausdruck der Befriedigung über das Schicksal
seines Romans zu unterdrücken. Es war das erste seiner Werke, das nicht direkt aus seiner Feder geflossen war, da er es einer
Sekretärin in die Schreibmaschine diktiert hatte. Vielleicht lag es an dieser |634| symbolischen Distanz zwischen ihm und dem Papier, dass er den Mut aufgebracht hatte, über etwas so Privates und Schmerzhaftes
wie die Ängste seiner Kindheit zu sprechen. Er vermutete allerdings, dass es auch mit seiner Entscheidung zu tun haben könnte,
nicht länger in Hotels und Gasthäusern zu wohnen, sondern sich in dem wundervollen Haus im georgianischen Stil, das er in
Rye erworben hatte, niederzulassen, um dort im Licht der herbstlichen Sonne, in dem ein Schmetterling vor der Fensterscheibe
flatterte und eine Unbekannte darauf wartete, seine Worte in eine monströse Maschine zu tippen, jenen Roman zu Papier zu bringen,
dessen Geschichte ihm vor langer Zeit der Erzbischof von Canterbury erzählt hatte und in der es um zwei Kinder ging, die in
einem einsamen Haus wohnten und von den bösen Geistern früherer Bediensteter heimgesucht wurden.
Beim Anblick des verhalten lächelnden James fragte sich Wells, was das für eine Spukgeschichte sein mochte, in der es um Gespenster
ging, die eigentlich keine waren, vielleicht aber doch.
«Und Frosts dritter Roman», fuhr Marcus fort, sich jetzt an Wells wendend, «kann natürlich nur
Der Unsichtbare
sein, den Sie, Mr. Wells, soeben fertiggestellt haben und dessen Protagonist ebenfalls einen Platz in der Ruhmeshalle moderner Mythen einnehmen
wird, genau wie der Dracula von Mr. Stoker.»
Sollte er jetzt auch eine stolzgeschwellte Brust zeigen?, fragte sich Wells. Vielleicht, aber er fand überhaupt keinen Grund
dazu. Am liebsten hätte er sich in eine Ecke gesetzt und geweint, bis keine Tränen mehr in seinem Körper waren, denn er konnte
den künftigen Erfolg seines Romans |635| nur als Scheitern begreifen, so wie er auch
Die Zeitmaschine
und
Die Insel des Dr. Moreau
als gescheitert betrachtete. Mit derselben Hast zu Papier gebracht wie diese beiden Romane, war
Der Unsichtbare
nur ein weiteres Werk nach den Vorgaben von Lewis Hind; ein Zukunftsroman, wieder eine düstere Fabel über den Missbrauch von
Technologie, in der es um einen Wissenschaftler ging, dem es gelungen war, sich unsichtbar zu machen, und der darüber dem
Wahnsinn verfiel. Die eigentliche Botschaft seines Romans würde aber ganz offensichtlich nicht verstanden werden, denn die
hieß, dass der Mann sich der Wissenschaft auf eine Weise bedient hatte, die genauso zerstörerisch war, wie der Zeitreisende
es hatte durchblicken lassen und wie sie selbst den schrecklichen Nachrichten entnehmen konnten, die an der weißen Leitschnur
aufgereiht hingen.
Marcus reichte ihm nun den Zeitungsausschnitt, damit er ihn lesen und an die anderen weitergeben konnte. Wells war viel zu
niedergeschlagen, um die Lobeshymnen zu lesen, aus denen der Artikel zu bestehen schien, und er begnügte sich mit einem Blick
auf das Foto, das Melvin Frost darstellte. Ein kleiner adretter Mann, der sich in lächerlicher Weise mit einer Hand auf die
Schreibmaschine stützte, der angeblich seine Romane entsprungen waren. Er reichte den Ausschnitt an James weiter, der ihn
nach einem widerwilligen Blick darauf Stoker übergab, welcher ihn förmlich an sich riss und von oben bis unten durchlas. Er
war es auch, der die Grabesstille, die sich im Saal breitgemacht hatte, schließlich unterbrach.
«Wie kann sich dieser Kerl genau dieselben Geschichten ausdenken, die wir geschrieben haben?», fragte er ungläubig.
|636| James bedachte ihm mit demselben geringschätzigen Blick, den ihm auch die Kunststücke eines Kirmesäffchens abgenötigt hätten.
«Seien Sie nicht so naiv, Mr. Stoker», wies er ihn zurecht. «Was unser Gastgeber sagen will, ist, dass dieser Mr. Frost sich die Romane nicht ausgedacht, sondern dass er sie uns auf
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