Die Landkarte der Zeit
längst seine eigenen geschaffen. Er war
dazu gezwungen gewesen, denn anders hätte er sich beispielsweise nie seines Stiefvaters entledigen können. Doch obwohl er
ihn vergiftet hatte, sobald er in dessen Testament aufgenommen war, hatte er es seitdem keinen Sonntag versäumt, ihm Blumen
aufs Grab zu stellen. Schließlich verdankte er ihm ja alles. Dennoch war das immense Vermögen, das er von diesem rohen, gewalttätigen
Mann geerbt hatte, nichts im Vergleich zu dem Vermächtnis seines leiblichen Vaters; nichts im Vergleich zu jenem unschätzbaren
Gen, das ihn befähigte, durch die Zeit zu reisen, und ihm damit die gesamte Vergangenheit zu Füßen legte. Im Geiste sah er
schon eine einzigartige Bibliothek von geheimen Manuskripten vor sich, auf denen Titel prangten wie
Die Schatzinsel, Die Ilias, Frankenstein
oder die der drei Romane seines Lieblingsautors Melvin Aaron Frost. Er nahm Frosts
Dracula
zur Hand und betrachtete eingehend das Foto des Autors. Ja , dieses schmächtige Kerlchen, dessen Augen schon verrieten, dass er von Schwächen und Lastern heimgesucht wurde wie jeder
gewöhnliche Sterbliche und sich seiner nur würdig erwies, wenn er die Feder in die Hand nahm, würde der Erste einer langen
Liste von Schriftstellern sein, die bei merkwürdigen Unfällen ums Leben kamen und ihm so helfen würden, seine gespenstische
Bibliothek aufzubauen.
Mit dieser Absicht und in Begleitung zweier seiner Männer reiste er in unsere Zeit, einige Monate bevor Frost berühmt werden
sollte. Er musste ihn erst ausfindig machen, feststellen , ob er die Manuskripte schon seinem Verleger geschickt hatte, und , falls dies nicht der Fall
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war, ihm mit vorgehaltener Waffe das Einzige entreißen, was ihn vom Rest des Gewürms unterschied, das die Welt verunzierte.
Danach würde er seinem elenden Dasein ein Ende bereiten, indem er irgendeinen Unfall inszenierte. Zu seiner Überraschung fand
er nicht den geringsten Hinweis auf einen Wohnsitz von Melvin Frost. Kein Mensch schien ihn zu kennen. Es war, als würde er
gar nicht existieren. Marcus konnte ja nicht wissen, dass Frost ebenfalls ein Zeitreisender war, der sich erst zu erkennen
geben würde, wenn er sich im Besitz eurer Werke befand. Aber Marcus dachte gar nicht daran, unverrichteter Dinge abzureisen.
Frost war der Autor, den er sich zum ersten Opfer seiner literarischen Morde ausersehen hatte, und er würde ihn finden, koste
es, was es wolle. Sein Plan zeichnete sich nicht eben durch besondere Feinsinnigkeit aus, denn um Frost aus seinem Versteck
zu locken, fiel ihm nichts anderes ein, als drei Menschen umzubringen und an den Tatorten jeweils die ersten Zeilen eines
der drei Romane zu hinterlassen. Er schrieb sie aus den Büchern des Autors ab, die er mitgenommen hatte. Das musste dessen
Neugier wecken. Die Texte wurden in den Zeitungen abgedruckt, ganz wie Marcus es vorhergesehen hatte, doch Frost blieb unsichtbar,
schien sich gar nicht angesprochen zu fühlen.
Verzweifelt und rasend vor Zorn legte sich Marcus mit seinen Männern Tag und Nacht bei den Tatorten auf die Lauer, doch alles
schien vergebens zu sein. Dann fiel ihm jemand unter den Neugierigen auf, die bei der Leiche seines dritten Opfers standen.
Es war nicht Frost, aber die Gegenwart dieses Mannes rief dieselben Empfindungen in ihm wach. Als ein Gaffer unter vielen
beobachtete Marcus den winzigen Körper von Mrs. Ellis , den er erst vor wenigen
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Stunden eigenhändig an die Wand gelehnt hatte, sowie den Inspektor von Scotland Yard, der bei der Leiche stand; einen jungen
Mann, der offenbar nur mit Mühe seinen Brechreiz zu unterdrücken vermochte. Da bemerkte er den Mann mittleren Alters, der
neben dem Inspektor stand. Er war ganz im Stil der Zeit gekleidet: eleganter Anzug mit Weste, Bowler , Monokel , Pfeife im Mundwinkel. Marcus hielt das alles jedoch für eine gelungene Verkleidung, als er das Buch in der Hand dieses Mannes
sah. Es war
Bis zum Äußersten
von Melvin Frost, der Roman, der noch gar nicht erschienen war. Wie kam dieser Mann in dessen Besitz? Er musste es ganz offensichtlich
mit einem anderen Zeitreisenden zu tun haben. Marcus bemühte sich, seine Erregung zu verbergen, und beobachtete aus den Augenwinkeln,
wie der Unbekannte den Romananfang mit dem Zitat auf der Mauer verglich und überrascht die Stirn runzelte, als er feststellte,
dass sie übereinstimmten.
Als der Mann das Buch einsteckte und davonging, folgte Marcus
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