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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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organischen Käfig deines Körpers gefangen, der dich in deiner Zeit festhielt und dir die Sicht aufs
     Universum verstellte. Unter heftigem Würgen musstest du erbrechen, und als dein Magen sich wieder beruhigt hatte, schautest
     du auf, um festzustellen, ob Marcus’ Leibwächter schon geschossen hatte oder den Moment noch genüsslich hinauszögerte. Aber
     da war niemand mehr, der auf dich zielte. In Wirklichkeit war überhaupt niemand mehr im Saal, keine Leibwächter, kein Marcus,
     kein James und kein Stoker. Du warst ganz allein in der dunklen Eingangshalle, sogar die Kerzen waren verschwunden. Es war,
     als hättest du geträumt. Aber wie hatte das alles passieren können? Ich will es dir sagen, Bertie : ganz einfach deswegen, weil du nicht mehr du warst. Du warst ich geworden.
    Wenn es dir nichts ausmacht, werde ich jetzt in der ersten Person mit meinem Bericht fortfahren. Es brauchte eine Weile, bis
     ich begriff, was geschehen war. Zitternd vor Angst und auf das leiseste Geräusch lauschend, verharrte ich einige Minuten in
     der Eingangshalle, in der es jetzt finster war wie in einem Sarg. Das Haus schien absolut menschenleer zu sein. Als nichts
     weiter geschah, wagte ich mich nach draußen, und auch auf der Straße regte sich nichts. Ich befand mich zwar in einem Zustand
     vollkommener Fassungslosigkeit, doch einer Sache war ich mir sicher: Was ich erlebt hatte, konnte kein Traum gewesen sein.
     Was war mit mir geschehen? Plötzlich hatte ich einen Einfall. Mit zitternder Hand nahm ich eine Zeitung, die jemand achtlos
     in einen Papierkorb geworfen hatte, und als
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ich das Datum las, sah ich meinen Verdacht bestätigt: Die heftigen Körperreaktionen kurz zuvor waren nichts anderes als die
     Begleiterscheinungen eines Zeitsprungs gewesen, und heute war der 7 . November 1888.   Ich war acht Jahre in die Vergangenheit gereist!
    Bestürzt versuchte ich diese neue Erkenntnis zu realisieren, doch viel Zeit hatte ich nicht, denn jetzt erinnerte ich mich,
     dass Jack the Ripper in dieser Nacht in Whitechapel die Geliebte des jungen Harrington umgebracht hatte und danach von der
     Bürgerwehr festgenommen worden war, die ein Zeitreisender alarmiert hatte   … War ich das gewesen? Ich war nicht sicher, aber alles deutete darauf hin. Wer außer mir konnte wissen, was passieren würde?
     Ich warf einen raschen Blick auf meine Uhr. Noch eine knappe halbe Stunde, bis der Ripper seine Untat beginge. Ich musste
     mich beeilen. Ich rannte los und suchte nach einer Kutsche, und als ich endlich eine fand, befahl ich dem Kutscher, mich so
     schnell wie möglich nach Whitechapel zu bringen. Während wir durch London fuhren, fragte ich mich, ob wirklich ich es war,
     der die Geschichte umgeschrieben hatte, der den Lauf des Universums verändert und auf die Bahn der blauen Schnur umgelenkt
     hatte, die sich immer weiter von der weißen Kordel entfernte, wie Marcus uns erklärt hatte, und, falls dem so war, ob ich
     das aus eigenem Antrieb getan hatte oder nur weil es geschrieben stand, weil es etwas war, das ich bereits getan hatte.
    Du kannst dir vorstellen, in welchem Zustand der Erregung ich in Whitechapel eintraf, sodass ich zuerst gar nicht wusste,
     was ich tun sollte. Natürlich würde ich nicht gleich in die Dorset Street laufen und mich dem blutrünstigen Ungeheuer entgegenwerfen;
     mein Samaritergeist hatte
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schließlich Grenzen. So stürmte ich in eine überfüllte Taverne und schrie, ich hätte Jack the Ripper in Miller’s Court gesehen.
     Das war das Erste, was mir einfiel, aber ich nahm an, dass es schon richtig sein würde. Was sich gleich darauf bestätigte,
     als unter den Leuten, die mich umringten, ein rothaariger Koloss namens George Lusk auftauchte, mich packte, mir den Arm auf
     den Rücken drehte, mein Gesicht auf den Tresen drückte und sagte, er werde gehen und das nachprüfen, aber wenn ich gelogen
     hätte, würde ich es mein Leben lang bereuen. Nach dieser Kraftdemonstration gab er mich frei, sammelte seine Männer um sich,
     und dann zogen sie nicht gerade überstürzt los in Richtung Dorset Street. Ich folgte ihnen bis zur Tür, rieb mir den Arm und
     verfluchte diesen grobschlächtigen Burschen, der den ganzen Ruhm einsacken würde. Da entdeckte ich in der Menschenmenge draußen
     voller Entsetzen den jungen Harrington. Bleich wie ein Gespenst bahnte er sich einen Weg durch die Menge, murmelte unzusammenhängende
     Worte und schüttelte zuckend den Kopf. Augenblicklich begriff ich,

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