Die Landkarte der Zeit
dass er soeben den aufgeschlitzten Leib seiner Liebsten
gefunden hatte. Er war die lebende Verzweiflung. Ich wollte ihn trösten, tat sogar zwei Schritte in seine Richtung, doch dann
blieb ich stehen, weil mir einfiel, dass es in der Vergangenheit keinerlei Hinweis auf eine derartige erbarmungsvolle Geste
meinerseits gab, und so blieb mir nichts anderes, als ihm nachzusehen, bis er am Ende der Straße verschwand. Ich musste mich
an das Libretto halten; jede Improvisation von meiner Seite konnte das Zeitgefüge auf ungeahnte Weise durcheinanderbringen.
Da vernahm ich hinter mir eine Stimme, die mir bekannt vorkam; eine Stimme, die nur aus einer mit Seide
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gefütterten Kehle stammen konnte: «Wenn ich Sie nicht leibhaftig vor mir sähe, würde ich es nicht glauben, Mr . Wells.» Marcus lehnte an der Wand, sein Gewehr in Händen. Ich sah ihn an, als wäre er einem Traum entstiegen. «Dies war der
einzige Ort, an dem ich Sie zu finden hoffen konnte, und meine Eingebung hat mir recht gegeben: Sie sind der Zeitreisende,
der die Bürgerwehr benachrichtigt hat, damit sie Jack the Ripper fasst und damit den Lauf der Geschichte ändert. Wer hätte
das gedacht, Mr . Wells ? Obwohl ich annehme, dass das nicht Ihr richtiger Name ist. Der echte Schriftsteller dürfte längst tot sein. Aber nun, allmählich
gewöhne ich mich an diesen Totentanz, zu dem die Zeitreisenden die Vergangenheit gemacht haben. Es ist mir auch egal, wer
es ist, ich werde Sie auf jeden Fall töten.» Bei diesen Worten lächelte er und richtete seine Waffe in aller Ruhe auf mich,
als hätte er gar keine Eile, mich umzubringen, oder als wollte er den Moment bis zur Neige auskosten.
Ich hatte allerdings nicht die Absicht, untätig zuzusehen, wie mich sein Hitzestrahl durchbohrte. Ich drehte mich um und rannte
so schnell ich konnte im Zickzack die Straße hinunter. Im selben Augenblick fühlte ich eine Art Lavastrahl über mich hinwegzischen,
der mir die Haarspitzen versengte, und hörte Marcus laut auflachen. Offenbar wollte er noch ein bisschen Spaß mit mir haben,
bevor er mich umbrachte. Ich rannte weiter, nur auf mein Überleben bedacht, obwohl mir dieser Plan mit jeder Sekunde undurchführbarer
erschien. Mit hämmerndem Herzen hörte ich Marcus, der ohne Hast hinter mir herkam wie ein Raubtier, das die Jagd auf die sichere
Beute genießt. Zum Glück war die Straße, in die ich eingebogen war, menschenleer , sodass
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kein Fußgänger Gefahr lief, den tödlichen Folgen unseres Spiels zu erliegen. Wieder spürte ich einen Hitzestrahl, der rechts
an mir vorbeischoss und eine Hauswand durchbohrte. Dann einen links von mir, der eine Straßenlaterne in Asche verwandelte.
Im selben Moment sah ich aus einer Seitenstraße einen Pferdekarren auftauchen, und anstatt anzuhalten, rannte ich noch schneller,
sodass ich knapp an ihm vorbeikam. Gleich darauf vernahm ich ein Splittern von Holz und begriff, dass Marcus nicht gezögert
hatte, auf den Karren zu schießen, der ihm im Weg war. Meine Vermutung bestätigte sich, als ich ein brennendes Pferd über
meinen Kopf fliegen sah, das einige Meter vor mir aufs Pflaster schlug. Dem verkohlten Tier ausweichend, bog ich in eine andere
Straße ein, während hinter mir das Chaos der Zerstörung wütete. Nach der nächsten Abbiegung fand ich mich in einer Sackgasse
wieder und sah im Licht einer Straßenlaterne den langen Schatten von Marcus auf die Mauer fallen, die mir den Weg versperrte.
Voller Entsetzen sah ich, wie er stehenblieb und anlegte, und begriff, dass er jetzt Ernst machen würde. In wenigen Sekunden
würde ich tot sein, sagte ich mir, rannte aber trotzdem weiter.
Da spürte ich wieder das bekannte Übelkeitsgefühl. Einen Moment lang schien der Boden unter meinen Füßen zu verschwinden,
und in der nächsten Sekunde war er wieder da, fühlte sich aber anders an, und ich war von Tageslicht geblendet. Ich biss die
Zähne zusammen, um mich nicht zu übergeben, meine Augenlider flatterten, und ich musste stehenbleiben. Als ich wieder klar
sehen konnte, erblickte ich eine riesige eiserne Maschine, die auf mich zugerattert kam. Ich warf mich zur Seite und rollte
ein paar Meter über die Erde. Als ich den Kopf hob, sah ich
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das Maschinenungetüm an mir vorbeiziehen und hörte unsichtbar darin fahrende Männer mich als Trunkenbold beschimpfen. Aber
die lärmende Maschine war nicht die einzige. Die ganze Straße war voll von ihnen, wie eine Herde
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