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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Welt, von der Royal Geografic Society bis zum unbedeutendsten Naturkundemuseum, wollte sich
     den Ruhm von der Entdeckung dieses rätselhaften Platzes auf die Fahne schreiben. Den Murrays erging es nicht anders. Und während
     der
New York Herald
und der
London Daily Telegraph
noch Stanleys neue Expedition ausrüsteten, schickten Vater und Sohn einen ihrer erfahrensten Forscher in die Unwegsamkeit
     des afrikanischen Kontinents.
    Sein Name war Oliver Tremanquai. Er hatte mehrere erfolgreiche Expeditionen im Himalaja durchgeführt und war ein erfahrener
     Jäger. Indische Tiger, Bären des Balkan und Elefanten auf Ceylon zählten zu seinen Jagdtrophäen. Außerdem war er zutiefst
     religiös, und wenn er auch nie als Missionar auftrat, ließ er doch keine Gelegenheit ungenutzt, die Eingeborenen zu bekehren
     und so das Kontingent des Herrn stetig zu vergrößern. Begeistert von seinem neuen Auftrag, brach Tremanquai von Sansibar aus
     auf, wo er sich mit Trägern und Lebensmitteln versorgt hatte. Doch schon wenige Tage nachdem er ins Innere des Kontinents
     vorgedrungen war, verloren die Murrays jeden Kontakt zu ihm. Endlos langsam verstrichen die Wochen, ohne dass sie eine Nachricht
     von ihm erhielten. Was mochte ihm zugestoßen sein? Sie waren untröstlich, als sie einsahen, |139| dass sie Tremanquai verlorengeben mussten. Auch hatten sie keinen Stanley, den sie auf die Suche nach ihm schicken konnten,
     da jeder ihrer Männer absolut unentbehrlich war.
    Zehn Monate später, gerade als sie mit Zustimmung der Ehefrau, die sich bis dahin geweigert hatte, Trauerkleidung zu tragen,
     eine symbolische Beerdigung zu Ehren des großen Forschers abhalten wollten, erschien Tremanquai in ihrem Büro. Ein Gespenst
     hätte keinen größeren Aufruhr verursachen können. Er war beängstigend abgemagert, seine Augen brannten wie die eines Wahnsinnigen,
     er stank und war so schmutzig, dass man nicht eben glauben konnte, er habe in letzter Zeit in Rosenwasser gebadet. Wie sein
     bedauernswertes Äußeres schon verriet, war die Expedition von Anfang an ein Fiasko, denn kaum waren sie in den Urwald vorgedrungen,
     fielen sie in den Hinterhalt eines somalischen Stammes. Tremanquai fand nicht einmal Zeit, sein Gewehr gegen die katzengleich
     aus dem Dschungel heranhuschenden Schatten in Anschlag zu bringen, bevor ein Pfeilregen ihn niederstreckte. In dem undurchdringlichen
     Dickicht, fern den Blicken der Zivilisation, wurde die gesamte Expedition niedergemacht. Die Angreifer hielten ihn für ebenso
     tot wie den Rest seiner Leute. Tremanquai war jedoch vom Leben gestählt, ihn umzubringen, brauchte es mehr als eine Horde
     Wilder. Verwundet irrte er wochenlang fiebernd durch den Dschungel, sein Gewehr als Krücke benutzend, immer noch ein paar
     Pfeile im Leib, bis er schließlich auf ein von einer Palisade umschlossenes Eingeborenendorf traf. Erschöpft brach er vor
     dem Tor zusammen und lag dort wie ein von der Flut an Land gespültes Stück Strandgut.
    |140| Einige Tage später erwachte er auf einem unbequemen Lager, vollständig nackt, die zahlreichen Wunden mit einer ekelerregenden
     Paste bedeckt. Die mit dem Auftragen dieses grünlichen Breis betraute Person war ein junges Mädchen, dessen Gesichtszüge ihm
     von keinem der ihm bekannten Stämme vertraut vorkam. Ihr Körper war lang und biegsam, mit schmalen Hüften und kaum erkennbaren
     Brüsten, die dunkle Haut von einem matten Glanz. Wenig später stellte er fest, dass die Männer dieses Stammes ebenso leicht
     und schmal waren, von zartem Körperbau unter einer kaum ausgeprägten Muskulatur. Da er nicht wusste, mit welchem Stamm er
     es zu tun hatte, gab Tremanquai ihm einen Namen nach eigenem Gutdünken und nannte seine Mitglieder Lianesen, da sie ihn in
     ihrer schlanken Biegsamkeit an Lianen erinnerten. Zwar war Tremanquai ein ausgezeichneter Schütze, doch seine Phantasie war
     nur höchst rudimentär ausgebildet. Die zarten Gesichter der Lianesen verwunderten ihn ebenso wie ihre großen dunklen Augen,
     die ihnen das umschattete Aussehen edler Marionetten gaben. Doch als er genas und langsam umhergehen konnte, entdeckte er
     jede Menge weiterer Gründe, sich zu wundern. Da war zuerst einmal ihre Sprache: gedämpfte Rachenlaute, die er, der gewohnt
     war, die wunderlichsten Dialekte nachzuahmen, unmöglich hervorzubringen schaffte. Dann schien es überhaupt keine Altersunterschiede
     unter den Dorfbewohnern zu geben. Außerdem fehlte es im Dorf an den elementarsten

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