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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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jeder von uns sie machen
     möchte. Zeitreisen sind ein alter Menschheitstraum. Aber, meine Herren, haben Sie so etwas schon einmal in Betracht gezogen,
     bevor Sie das Buch von Mr.   Wells gelesen haben? Ich fürchte, nicht. Ich selbst ebenso wenig, das kann ich Ihnen versichern. Mr.   Wells ist es gelungen, einem abstrakten Wunsch eine konkrete Form zu geben; in Worten auszudrücken, was den Menschen immer
     schon bewegt hat.»
    Murray machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte sich setzen zu lassen, wie der Staub eines ausgeklopften Teppichs sich
     auf die Möbel setzt.
    «Bevor ich dieses Unternehmen gründete», fuhr er dann fort, «habe ich bei meinem Vater gearbeitet. Wir haben Forschungsreisen
     ausgerüstet. Wir waren eine der Hunderte von Gesellschaften, die ihre Forscher in die entlegensten Winkel der Erde schicken,
     um sie ethnographische oder archäologische Kenntnisse sammeln zu lassen, die dann später die Wissenschaftsblätter füllen,
     oder unbekannte Insekten und Blumen für naturkundliche Museen, die ganz wild darauf sind, ihre Schaukästen mit den Fieberphantasien
     des Schöpfers zu füllen. Doch neben dem Geschäft trieb uns auch der Wunsch, so exakt wie möglich die |133| Welt, in der wir leben, kennenzulernen. Wir waren sozusagen von einer räumlichen Neugier getrieben. Doch weiß man nie, was
     das Schicksal für einen bereithält, nicht wahr, meine Herren?»
    Ohne auf eine Antwort zu warten, bedeutete Gilliam Murray ihnen, ihm zu folgen. Durch den Archipel von Tischchen und Standgloben
     hindurch, Eterno stets dicht auf den Fersen, führte er sie zu einer der Seitenwände. Im Gegensatz zu den übrigen war sie nicht
     mit Bücherregalen voller Atlanten, geografischen Abhandlungen, astronomischen Studien sowie zahllosen Werken abseitigster
     Forschungsgebiete vollgestellt, sondern ganz mit chronologisch nach ihrer Kartierung angeordneten Landkarten bedeckt. Die
     Sammlung begann, wie eine Reise durch die Zeit, mit Reproduktionen von Landkarten der Renaissance, welche, noch ganz dem ptolemäischen
     Geist verpflichtet, die Erde als eine Art beinlosen Käfer darstellten, beunruhigend winzig, und aus kaum mehr als einem formlosen
     Kontinent Europa bestehend, gefolgt von einer Karte des deutschen Geografen Martin Waldseemüller, auf der Amerika vom asiatischen
     Kontinent abgebrochen war, und sie endete mit den Arbeiten von Abraham Ortelius und Gerhardus Mercator, deren Welt beträchtlich
     ausgedehnter war und ähnliche Dimensionen wie unsere heutige aufwies. Von links nach rechts gehend, wie Murray sie an der
     Wand entlangführte, entfaltete die chronologische Anordnung eine ähnliche Wirkung, als würde man einer sich öffnenden Blüte
     oder einer sich streckenden Katze zusehen, da sich die Welt buchstäblich vor ihnen auftat, sich aufreizend langsam vor ihren
     Augen entfaltete und immer geräumiger wurde, je weiter Seefahrer und Forschungsreisende die Grenzen |134| hinausschoben. Andrew fand es faszinierend, dass wenige Jahrhunderte zuvor noch kein Mensch geahnt hatte, dass die Welt jenseits
     des Atlantiks weiterging, ihr wahres Ausmaß der Hartnäckigkeit und dem Glück der Forscher geschuldet war, die durch ihre gefahrvollen
     Reisen die mittelalterliche Leere füllten, in der die Ungeheuer westen. Gleichzeitig bedauerte er jedoch, dass die Welt keine
     Rätsel mehr barg, es keine weiteren Länder und Meere gab als die auf den letzten Landkarten dargestellten, nur noch eine offizielle,
     bekannte Welt in ihren eigenen Grenzen, die nichts anderes mehr zu tun ließ, als den genauen Verlauf ihrer Küsten einzuzeichnen.
     Murray hieß sie vor einer riesigen Landkarte stehenbleiben, die die Sammlung beschloss.
    «Gentlemen, Sie stehen hier vor der wohl ausführlichsten Karte, die Sie in ganz England finden können», informierte sie Gilliam
     mit hörbarem Stolz. «Ich halte sie stets auf dem neuesten Stand. Sobald ein unbekanntes Stück Erde kartographiert wird, lasse
     ich sie neu zeichnen und vernichte die alte. Viele der hier eingezeichneten Expeditionen sind von uns finanziert und ausgerüstet
     worden.»
    Es war eine verwirrende Landkarte, über und über mit verschiedenfarbenen und sich überschneidenden Linien bedeckt, die, wie
     Gilliam erklärte, sämtliche bis heute durchgeführten Forschungs- und Entdeckungsreisen des Menschen darstellten und deren
     Wechselfälle und Schicksalsschläge er, zweifellos mit morbider Lust, am linken Rand der Zeichnung penibel aufgelistet

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