Die Landkarte der Zeit
Alltagsgegenständen, als würde das Leben
dieser Wilden an anderer Stelle stattfinden oder als hätten sie es auf eine einzige Tätigkeit reduziert: das Atmen. Doch wenn
es eine Frage gab, die sich Tremanquai immer stärker aufdrängte, |141| so war es die, wie diese Lianesen inmitten wilder Nachbarstämme überleben konnten. Der Stamm war klein, die Menschen schienen
weder stark noch kämpferisch zu sein, und die einzige Waffe, die er im Dorf gesehen hatte, war sein Gewehr.
Eines Nachts dann konnte er erleben, wie sie es machten, als ein Wächter kundgab, die grausamen Massai hätten das Dorf umstellt.
Von seiner Hütte aus sah Tremanquai, zusammen mit dem Mädchen, das ihn pflegte, wie sich seine zartgliedrigen Retter auf dem
Dorfplatz versammelten, genau dem Eingang im Palisadenzaun gegenüber, der nicht einmal mit einem Tor verschlossen war. Wie
zu einem Opfer bereit, fassten sich die Lianesen an den Händen und stimmten einen befremdlichen Gesang an. Nachdem Tremanquai
sich von seiner Verblüffung erholt hatte, griff er nach seiner Flinte und kroch ans Fenster, um seine Gastgeber so gut es
ging zu beschützen. Auf dem Platz brannten nur wenige Fackeln, aber der Mond war hell genug, um einen erfahrenen Jäger wie
ihn sein Ziel finden zu lassen. Er richtete das Gewehr auf den Eingang und vertraute darauf, dass, wenn es ihm gelang, ein
paar Massai zu töten, die übrigen vielleicht glaubten, das Dorf werde von Weißen verteidigt, und den Rückzug antraten. Zu
seiner Überraschung drückte das Mädchen den Lauf der Waffe sanft nach unten und gab ihm zu verstehen, dass sein Eingreifen
nicht erforderlich sei. Tremanquai wollte protestieren, doch der gelassene Blick der Lianesin belehrte ihn eines Besseren.
Voller Schrecken und mit großer Verwirrung sah er dann die wilden Massai mit ihren Lanzen durch die Öffnung auf den Dorfplatz
stürmen, wo die Bewohner sie erwarteten, ohne ihren misstönenden |142| Gesang zu unterbrechen. Tremanquai machte sich auf ein Gemetzel gefasst. Dann geschah etwas, das der Forscher mit zitternder
Stimme berichtete, als könne er den Worten nicht trauen, die aus seinem eigenen Mund kamen. Die Luft zerbrach. Besser konnte
er es nicht erklären. Es war, als würde man ein Stück Tapete von der Wand reißen und die dahinterliegende Mauer sehen. Der
Unterschied bestand nur darin, dass dort keine Mauer zu sehen gewesen war, sondern eine andere Welt. Eine Welt, die der Forscher
aufgrund seiner Position zunächst nicht sehen konnte, von der aber ein bleicher Glanz ausging, der die nähere Umgebung erhellte.
Verblüfft sah er die ersten Massai in das Loch hineinstürzen, das sich zwischen ihnen und den Lianesen gebildet hatte, und
aus der Realität, aus der Welt, in der sich Tremanquai befand, verschwinden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Die restlichen
Massai rannten entsetzt davon, als sie sahen, wie die helle Nacht ihre Brüder verschlang. Der Forscher schüttelte, noch immer
überwältigt, den Kopf. Jetzt verstand er, wie das Dorf inmitten seiner Feinde bislang hatte überleben können.
Er taumelte aus der Hütte und näherte sich dem Loch, das die Gesänge seiner Gastgeber in das Gewebe der Wirklichkeit gerissen
hatten. Als er davorstand, sah er eine Öffnung, die wie ein Vorhang wehte und größer war, als er gedacht hatte. Sie begann
am Boden, war übermannshoch und so breit, dass ein Karren ohne Schwierigkeit hindurchfahren konnte. Ihre Ränder schwankten
in der Landschaft, die sie verschwinden und wieder sichtbar werden ließ wie Wellen den Strand. Fasziniert schaute Tremanquai
hindurch wie durch ein Fenster. Jenseits sah er eine Welt, die anders war als die unsere, eine Art rosafarbene Steinwüste, |143| über die ein erbarmungsloser Sandsturm tobte. Durch den Staub in der Luft erkannte er verschwommen ein dunkles Gebirge weit
im Hintergrund. Blind und orientierungslos stolperten die Massai durch diese fremde Welt, stießen sich gegenseitig ihre Lanzen
in den Leib, sodass die Zahl derer, die sich auf den Beinen hielten, rapide abnahm. Verzückt beobachtete Tremanquai den grotesken
Todestanz und fühlte einen Wind durch sein Haar streichen, der ebenso wenig von dieser Welt war wie der seltsame Staub, der
sich in seine Nasenlöcher setzte.
Die Lianesen, die immer noch aneinandergedrängt auf dem Dorfplatz standen, stimmten wieder ihren entsetzlichen Gesang an,
und das Loch begann sich zu schließen, zog sich vor
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