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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Tremanquais ungläubigen Augen zusammen, bis es verschwunden war. Der Forscher
     fuhr mit der Hand durch die Luft, wo eben noch das Loch gewesen war. Es war, als hätte sich nie etwas zwischen ihm und den
     versammelten Lianesen befunden, die sich jetzt zu verlaufen begannen, ein jeder seiner Hütte zustrebend, als wäre nichts Besonderes
     geschehen. Für Tremanquai jedoch war die Welt, so wie er sie kannte, für immer verändert. Er begriff, dass ihm nur zwei Möglichkeiten
     blieben. Entweder betrachtete er seine Welt, die er immer für einzigartig gehalten hatte, fortan als eine von vielen anderen,
     die es gab und die anscheinend übereinanderlagen wie die Seiten eines Buches, in die man nur einen Dolch hineinstoßen musste,
     um einen Zugang zu allen anderen zu finden; oder, diese Möglichkeit war wesentlich simpler, er würde verrückt.
    In jener Nacht fand der Forscher keinen Schlaf. Er lag mit aufgerissenen Augen und angespanntem Körper auf |144| seinem Lager, hörte jeden Laut, der aus der Dunkelheit zu ihm drang. Sich in einem Dorf von Zauberern zu wissen, gegen die
     weder sein Gewehr noch sein Gott etwas auszurichten vermochten, erfüllte ihn mit namenlosem Schrecken. Sobald er mehr als
     einige Schritte gehen konnte, ohne schwindlig zu werden, floh er aus dem Dorf der Lianesen. Er brauchte mehrere Wochen, bis
     er den Hafen von Sansibar erreichte. Dort überlebte er mehr schlecht als recht, bis es ihm gelang, sich auf einem Schiff nach
     London zu verstecken. Zehn Monate nach dem Beginn seiner Expedition war er wieder zurück, doch das Erlebte hatte einen anderen
     Menschen aus ihm gemacht, man brauchte ihn sich bloß anzusehen. Es war eine schreckliche Odyssee gewesen, die Sebastian Murray
     ihm natürlich nicht glaubte. Er wusste zwar nicht, was seinem besten Expeditionsleiter zugestoßen war, klar war jedoch, dass
     er nicht daran dachte, der Geschichte von den Lianesen und ihren absurden Luftlöchern die geringste Glaubwürdigkeit beizumessen.
     Das waren die Fieberphantasien eines Verrückten. Und Tremanquai selbst schien ihm recht zu geben, da er sich als unfähig erwies,
     sein normales Leben an der Seite seiner Exwitwe und der beiden Töchter wiederaufzunehmen. Wahrscheinlich hätte die Frau es
     vorgezogen, regelmäßig Blumen auf sein Grab zu stellen, als mit jenem Fremden zusammenzuleben, den ihr Afrika zurückgegeben
     hatte und dessen Zustände von völliger Apathie zu unvorhersehbaren Ausbrüchen von Wahnsinn wechselten und so das bislang friedliche
     Familienleben durcheinanderbrachten. Seine wiederkehrenden Anfälle, die ihn manchmal nackt auf die Straße trieben oder dazu
     brachten, von seinem Fenster aus auf die Hüte der Passanten zu schießen, |145| stellten eine dauernde Bedrohung des Friedens in ihrem Viertel dar. Sie führte dazu, dass er in die Abteilung für Geisteskranke
     des Hospitals de Guy eingeliefert wurde, wo man ihn in eine Zelle sperrte.
    Ganz allein war er dort jedoch nicht. Ohne Wissen seines Vaters besuchte ihn Gilliam Murray, wann immer es ihm möglich war,
     weil er nicht mit ansehen konnte, wie einer seiner besten Männer in diesem bedauernswerten Zustand dahinvegetierte; aber auch,
     weil ihn dessen phantastische Geschichte jedes Mal tief bewegte. Gilliam war damals gerade zwanzig Jahre alt. Und Tremanquai
     enttäuschte ihn nie. Auf seinem Bett sitzend, den Blick über die Feuchtigkeitsflecken an den Wänden wandern lassend, erzählte
     er mit nie nachlassender Begeisterung die Geschichte von den Lianesen, reicherte sie stets mit neuen und außergewöhnlichen
     Einzelheiten an und war glücklich, ein Publikum und genügend Zeit zu haben, um seiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Eine
     Zeitlang glaubte Gilliam, der Forscher werde wieder zu Verstand kommen, doch nach vier Jahren erhängte sich Tremanquai in
     seiner Zelle. Auf einem Fetzen Papier hatte er eine Nachricht hinterlassen. Mit zittriger Schrift schrieb er nicht ohne Ironie,
     er gehe jetzt ins Jenseits hinüber, in eine der vielen Welten, die es gebe.
    Zu der Zeit arbeitete Gilliam als Teilhaber seines Vaters in der Firma, und obwohl er Tremanquais Geschichte trotz seiner
     vielen Besuche stets für die eines Verrückten gehalten hatte, vielleicht aber auch gerade deswegen, weil es die beste Art
     von Gedenken sein konnte, sich dessen Wahnsinn nicht zu verschließen, schickte er hinter dem Rücken seines Vaters zwei Forscher
     nach Afrika, die die |146| sagenhaften Lianesen suchen sollten. Samuel

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