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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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eine Art allegorisches
     Phantasieprodukt der Lianesen waren. Außerdem hatten sie Whisky dabei, diesen Zaubertrank, der ihnen zu dem nötigen Mut verhelfen
     würde, oder wenigstens die Möglichkeit, von einer elefantengroßen Bestie gefressen zu werden, zu einem nicht zu ernst zu nehmenden
     Ereignis machte. Was brauchten sie mehr!
    Sie beschlossen, die Expedition in Richtung des Zeitlochs fortzuführen, das den Krieg zwischen den Figuren darstellte, da
     es dem Gebirge am nächsten lag. Der Weg |154| war mühsam, erschwert durch jäh auftretende Sandstürme, in denen sie ihr Zelt aufbauen und sich darin verkriechen mussten,
     wenn sie nicht geschmirgelt werden wollten wie zwei schmiedeeiserne Leuchter. Wenigstens stießen sie auf keines dieser riesigen
     Ungeheuer. Als sie das Zeitloch erreichten, wussten sie natürlich nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber sie waren vollkommen
     erschöpft. Größe und Beschaffenheit der Öffnung ähnelten der, durch die sie in diese düstere Welt eingetreten waren. Sie unterschied
     sich allein dadurch, dass man auf der anderen Seite kein Hüttendorf sah, sondern eine zerstörte Stadt. Es gab zwar kaum ein
     Gebäude, das nicht eingestürzt war, aber die Art der Bauten war ihnen nicht fremd. Einige Minuten standen sie da, wie man
     vor einem Schaufenster steht, und betrachteten die Trümmerlandschaft; versuchten, irgendwo ein Zeichen von Leben zu entdecken
     oder irgendetwas, das ihnen einen Anhalt gab, doch nur eine dichte Totenstille lag über der dem Erdboden gleichgemachten Stadt.
     Welcher Krieg konnte so eine schreckliche Verwüstung anrichten? Nachdem sie sich mit einigen Schlucken Whisky den Mut wieder
     angetrunken hatten, der ihnen beim Anblick der zerstörten Stadt vollständig abhandengekommen war, setzten sich Kauffman und
     Austin die Tropenhelme auf und sprangen entschlossen durch das Loch. Sogleich bemerkten sie den Geruch, der ihnen vertraut
     vorkam. Sie begriffen jedoch bald, dass es sich hierbei um gar keinen besonderen Geruch handelte, sondern schlicht um den
     ihrer eigenen Welt, den sie ja während ihres Aufenthalts in der rosafarbenen Ebene nicht mehr wahrgenommen hatten.
    Überwältigt von dem Anblick dieser Zerstörung, bewegten |155| sie sich mit den Gewehren im Anschlag vorsichtig durch die mit Trümmern übersäten Straßen, bis sie mit einem Mal verblüfft
     innehielten. Ungläubig starrten Kauffman und Austin auf das neue Hindernis, das ihnen den Weg versperrte und das nichts anderes
     war als der Glockenturm von Big Ben. Wie der abgeschnittene Kopf eines Fisches lag er vor ihnen auf der Straße, das Zifferblatt
     der Uhr gleich einem Auge, das sie mit trostloser Resignation anstarrte. Erschüttert ließen sie ihre Blicke durch die Umgebung
     schweifen, betrachteten mit plötzlicher Zuneigung jedes eingestürzte Gebäude, sahen beklommenen Herzens den von Trümmerhalden
     verstellten Horizont, an dem schwarze Rauchfahnen aufstiegen und den Himmel über diesem verwüsteten London verfinsterten.
     Beide ließen ihren Tränen freien Lauf. Und sie hätten, den Leichnam ihrer geliebten Stadt beweinend, bis ans Ende ihrer Tage
     dort gestanden, wäre nicht ein seltsames Getöse von irgendwoher an ihr Ohr gedrungen. Es hörte sich an wie ein Hämmern von
     etwas Metallischem.
    Mit schussbereiten Gewehren folgten sie dem Lärm, bis sie zu einem großen Trümmerhaufen kamen. Auf allen vieren kletterten
     sie lautlos hinauf. Von dieser notdürftigen Tribüne aus erblickten sie, ohne selbst gesehen zu werden, die Verursacher des
     metallischen Schepperns. Es waren sonderbare Eisengestalten von annähernd menschlichen Proportionen, die anscheinend von einer
     Art Dampfmaschinchen auf ihrem Rücken in Bewegung gesetzt wurden, wie aus dem Rauch zu schließen war, der in regelmäßigen
     Abständen zwischen den Gelenken hervorquoll. Das Geräusch wie von heiserem Glockenspiel, das die Forscher gehört hatten, wurde
     von den schweren Eisenschuhen |156| hervorgerufen, wenn diese gegen eines der Metallteile stießen, mit der die Straße übersät war. Zuerst wussten die verblüfften
     Forscher nicht, mit was für Dingern sie es dort zu tun hatten, bis Austin etwas zwischen dem Geröll herausfischte, das wie
     eine Zeitungsseite aussah. Mit zitternden Händen entfaltete er das Blatt. Auf ihm war ein Foto der Wesen zu sehen, die sich
     direkt vor ihnen bewegten. In dem Zeitungsartikel war vom unaufhaltsamen Vormarsch der Maschinenarmee die Rede und endete
     mit

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