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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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so wirklich scheinen wie die Insel Liliput, auf der Lemuel Gulliver gestrandet war und die von
     nur wenige Zentimeter großen Wesen bewohnt wurde. Das strahlende Grinsen in Charles’ Gesicht verriet ihm jedoch, dass sein
     Cousin die Geschichte sehr wohl glaubte. Immerhin hatte er das Jahr 2000 schon besucht. Was machte es da aus, dass dazu eine
     rosafarbene Ebene durchquert werden musste, in der die Zeit stillstand?
    «Und jetzt, Gentlemen, haben Sie die Güte, mich zu begleiten. Ich möchte Ihnen etwas vorführen, das ich nur Personen meines
     Vertrauens zeige», verkündete Gilliam und übernahm wieder die Führung durch sein weitläufiges Büro.
    Mit Eterno an seiner Seite führte er sie zu einer anderen Wand des Zimmers, wo sie eine kleine Sammlung von Fotografien erwartete
     sowie etwas, das eine weitere Landkarte |163| sein mochte, jedoch von einem roten Seidenvorhang bedeckt wurde. Andrew stellte überrascht fest, dass die Fotografien in der
     vierten Dimension aufgenommen worden waren, obwohl sie andererseits aus jeder beliebigen Wüstengegend stammen konnten, da
     keine Kamera die Farben der Welt einzufangen vermochte, weder dieser noch einer anderen, wie es schien. Man musste daher seine
     Vorstellungskraft bemühen, um diesem weißlichen Sand den Rang von Rosa zuzugestehen. Die meisten Fotos zeigten Alltagsszenen
     der Expedition: Gilliam und die mutmaßlichen Forscher Kauffman und Austin beim Aufbau ihres Zeltes, beim Kaffeetrinken während
     einer Ruhepause, beim Entzünden eines Lagerfeuers vor dem schemenhaften Hintergrund des Gebirges, das im Dunst kaum zu erkennen
     war. Alles viel zu normal. Nur bei einem Foto hatte Andrew den Eindruck, tatsächlich eine unbekannte Welt zu sehen. Es zeigte
     Kauffman und Austin – dickbäuchig und stämmig der Erste, dürr wie eine Vogelscheuche der Zweite – mit breitem Grinsen, die
     Hüte in den Nacken geschoben, die Gewehre im Arm und je einen Fuß auf den gewaltigen Kopf eines Märchendrachen gesetzt, der
     wie eine Jagdtrophäe vor ihnen im Sand lag. Er wollte sich gerade vorbeugen, um den unförmigen Koloss näher in Augenschein
     zu nehmen, als ein unangenehmes Sirren ihn zurückfahren ließ. Neben ihm zog Gilliam an einer goldenen Kordel den Samtvorhang
     zur Seite, um ihnen zu zeigen, was sich dahinter befand.
    «Gentlemen, ich kann Ihnen versichern, dass Sie eine solche Landkarte in ganz England nicht finden werden», sagte er mit stolzgeschwellter
     Brust. «Es handelt sich um eine exakte Kopie der Zeichnung aus der Höhle der Lianesen, |164| die wir auf unseren späteren Expeditionen natürlich vergrößert haben.»
    Was hinter dem Kasperltheatervorhang zum Vorschein kam, war weniger eine Landkarte als die Zeichnung eines phantasiebegabten
     Kindes. Dominierend war natürlich die Farbe Rosa, welche die Ebene darstellte. In deren Mitte erhob sich das Gebirge, doch
     auch andere Dinge waren eingezeichnet. In der rechten Ecke konnte man, zum Beispiel, die zittrige Linie eines Flusslaufs erkennen,
     und ganz in der Nähe einen hellgrünen Fleck, der vielleicht einen Wald oder eine Weidefläche darstellen sollte. Für Andrew
     wollten diese Zeichnungen, mit deren Symbolik man üblicherweise die bewohnte Welt kartographierte, nicht recht zu einer Landkarte
     passen, die die vierte Dimension darstellen sollte. Das Einzige, was auf der Karte hervorstach, waren die goldenen Punkte,
     mit denen die Ebene gesprenkelt war und die offenbar die Zeitlöcher darstellten. Zwei von ihnen, das ins Jahr 2000 führende
     und das, welches Murray jetzt besaß, waren durch einen kurvigen roten Strich miteinander verbunden, der die Route der Zeitstraßenbahn
     symbolisierte.
    «Wie Sie sehen, gibt es eine ganze Anzahl von Zeitlöchern; aber wir wissen noch nicht, wohin sie führen. Ob eines davon im
     Herbst 1888 endet? Vielleicht, wer weiß», sagte Gilliam mit einem bedeutungsvollen Seitenblick zu Andrew. «Kauffman und Austin
     versuchen jenes zu erreichen, das der Öffnung zum Jahr 2000 am nächsten liegt. Sie haben aber noch keinen Weg gefunden, die
     Herde der Bestien zu umgehen, die direkt davor weiden.»
    Während Andrew und Charles noch die Karte studierten, kniete Gilliam nieder und kraulte den Hund.
    |165| «Ah, die vierte Dimension», murmelte er träumerisch. «Welche Geheimnisse mag dieses Territorium bergen? Ich weiß nur, um es
     einmal poetisch auszudrücken, dass in ihm unsere Kerze nie verlöschen wird. Eterno scheint ein Jahr alt zu sein, gewiss,

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