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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Gebirgszug bestand zwar aus demselben schimmernden Felsgestein wie die
     Ebene, machte jedoch einen trostlosen Eindruck und erinnerte an eine Reihe faulender brüchiger Zähne. Die gezackten Felsen
     der Gipfel ragten bis in die Wolken hinein, und an einigen Stellen erkannten sie Einbrüche, die wie Höhlen aussahen. Da sie
     keinen besseren Plan hatten, beschlossen sie, eine Bergflanke bis zur nächstgelegenen Höhle hinaufzuklettern. Sie kamen zügig
     voran. Von einem Felsvorsprung erhielten sie einen vollständigeren Blick über die Ebene. Die zurückgelegte Entfernung machte
     das Loch, durch das sie in diese Welt gestiegen waren, zu einem schimmernden Punkt am Horizont. Er markierte ihren Rückweg,
     der ihnen als Orientierung diente. Die Möglichkeit, dass die Lianesen ihn schließen konnten, beunruhigte sie nicht, da sie
     die gesamten Whiskyvorräte mitgenommen hatten. Und dann bemerkten sie die anderen schimmernden Punkte, die zitternd in der
     Landschaft standen. In der diesigen Luft schimmerten sie zwar nur schwach, aber es schien mindestens ein halbes Dutzend zu
     sein. Waren das neue Löcher, die in weitere Welten führten? Die Antwort fanden sie in der Höhle, die zu erkunden sie sich
     nun anschickten. Kaum hatten sie den ersten Schritt hineingetan, erkannten sie, dass sie bewohnt war. Zeichen von Leben, wohin
     sie blickten: erloschene Feuerstellen, Gefäße, Werkzeuge und andere Utensilien täglichen Lebens, die Tremanquai |152| im Dorf der Lianesen so vermisst hatte. Weiter hinten in der Höhle entdeckten sie eine dunkle, enge Kammer, deren Wände mit
     Zeichnungen bedeckt waren. Die meisten stellten Alltagsszenen aus dem Leben der Lianesen dar. Den langen Strichmännchen nach
     zu urteilen, die überall zu sehen waren, konnte es sich nur um sie handeln. Offenbar spielte sich ihr Leben in dieser Schattenwelt
     ab. Das Dorf war nur eine vorübergehende Einrichtung, eine zufällige Niederlassung von vielen, die sie vielleicht in anderen
     Welten bewohnten. Kauffman und Austin sagten diese Malereien ländlicher Szenen nicht viel. Nur zwei von ihnen fesselten sie
     förmlich. Eine bedeckte eine ganze Wand, und soweit sie erkennen konnten, stellte sie eine Landkarte jener Welt dar, oder
     zumindest einen Teil von ihr, den der Stamm erkundet hatte und der die Umgebung des Gebirges umfasste. Was sie jedoch in ihren
     Bann zog, war die Einzeichnung einiger Zeitlöcher und dem, wenn sie es richtig interpretierten, was dahinter war. Die Darstellung
     war einfach: ein gelber Stern symbolisierte die Öffnung, die daneben eingezeichneten Figuren das Leben dahinter. Zumindest
     schien der von Hütten umgebene Punkt darauf hinzuweisen, bei dem es sich um die Öffnung handeln mochte, durch die sie eingedrungen
     waren, und um das Dorf auf der anderen Seite, das zu ihrer Welt gehörte. Von dieser Öffnung abgesehen, waren auf der Karte
     noch vier weitere eingezeichnet, und in der Ferne schienen sich noch andere zu befinden. Wohin mochten diese Löcher führen?
     Aus Faulheit oder mangelnder Begeisterung hatten die Lianesen nur die der Höhle am nächsten gelegenen Öffnungen eingezeichnet.
     Und hinter einer von ihnen schien sich ein Krieg zwischen zwei Arten von Gestalten |153| abzuspielen: die einen offenbar menschlicher Natur, die anderen aus Quadraten und Rechtecken bestehend. Die übrigen Zeichnungen
     waren noch rätselhafter, und alles, was Kauffman und Austin aus ihnen herauslesen konnten, war, dass es Dutzende von Löchern
     wie dem gab, durch das sie gegangen waren, doch dass sie das, was sich dahinter befand, nur würden ergründen können, wenn
     sie es selbst durchschritten, da das Gekritzel der Lianesen ihnen so unentzifferbar erschien wie der Traum eines Blinden.
     Die zweite Malerei, die ihre Aufmerksamkeit beanspruchte, befand sich auf der Wand gegenüber und stellte eine Gruppe Lianesen
     dar, die vor etwas flüchteten, das wie ein unwahrscheinlich großes Tier aussah. Es hatte vier Beine, einen mächtigen Körper
     und einen Schwanz wie ein Drache, der Rücken war mit Stacheln gespickt. Kauffman und Austin schauten sich wortlos an, vollkommen
     überwältigt davon, in einer Welt zu sein, in der es derartige Bestien gab, deren Abbildung allein schon Schauder erzeugte.
     Was, wenn sie ihnen begegneten? Sie kehrten trotzdem nicht um. Jeder von ihnen hatte sein Gewehr und genügend Munition, um
     es mit einer ganzen Herde dieser Ungeheuer aufzunehmen, falls es sie wirklich gab und sie nicht bloß

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