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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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schütteln. Kurz nach Auftauchen des Korbs erhielt er die wissenschaftliche
     Lehrbefähigung mit Auszeichnung in Zoologie, begann an der Fernuniversität Biologieunterricht zu erteilen, bekleidete den
     Rang des Chefredakteurs beim
University Correspondent
und schrieb Artikel und Kurzgeschichten für die
Educational Times
. Mit diesen Tätigkeiten verdiente er in kurzer Zeit so viel Geld, dass er rasch sein Selbstvertrauen wiederfand und sich
     von der Enttäuschung erholte, die der geringe Widerhall seiner Erzählung ausgelöst hatte. Er gewöhnte sich an, dem Korb allabendlich
     seine Aufwartung zu machen, indem er ihm einen langen, liebevollen Blick schenkte und mit den Fingern das feste Geflecht seiner
     Weidenruten streichelte, ein einfaches Ritual, das er vor Jane verheimlichte und das ausreichte, seinen Geist so zu entzünden,
     dass er sich unbesiegbar fühlte, voller Kraft, imstande, den Atlantik zu durchschwimmen oder einen Tiger mit bloßen Händen
     niederzuringen.
    Doch Wells war es nur für kurze Zeit vergönnt, sich an seinem Erfolg zu erfreuen. Denn sobald die Mitglieder |208| seiner verkommenen Familie herausfanden, dass der kleine Bertie dabei war, ein wohlhabender Mann zu werden, betrauten sie
     ihn damit, für seinen missratenen und bedrohten Anhang zu sorgen. Wells protestierte erst gar nicht, sondern übernahm ergeben
     die Rolle des Clanwächters, da er ja wusste, dass kein anderer in der Familie dazu imstande war. Seine Marathonstrecken an
     Unterricht abzuhalten und zugleich die kopflose Brut des nach billigem Tabak und verschüttetem Bier stinkenden Irrenhauses
     in Zaum zu halten forderte von Wells eine Anstrengung, die in blutigem Erbrechen auf den Stufen des Charing-Cross-Bahnhofs
     endete.
    Die Diagnose war eindeutig: Tuberkulose. Zwar erholte er sich bald, doch der Anfall war eine Warnung gewesen: Das Leben durchwachter
     Nächte und übermäßiger Arbeit musste aufhören, wenn er nicht wollte, dass der nächste Anfall mehr als nur eine Warnung sein
     würde. Mit seinem Sinn fürs Praktische akzeptierte Wells dies. Er wusste, dass er unter günstigem Wind genügend Überlebensenergie
     freisetzen konnte, und fasste eine neue Lebensstrategie ins Auge. Er ließ das Unterrichten und widmete sich fortan einzig
     dem Schreiben, was ihm erlaubte, ohne Zeitdruck zu Hause zu arbeiten und so das beschauliche Leben zu führen, das er seiner
     labilen Konstitution schuldete. Eine Zeitlang glaubte Wells, dieses wohltuende zurückgezogene Dasein werde ab jetzt sein Leben
     ausmachen, doch er irrte sich ein weiteres Mal. Es war nur ein Scheinfrieden. Der Zufall, so schien es, hielt ihn für eine
     seiner beweglichsten Marionetten, denn wieder änderte er den Kurs seines Lebens, nur dass er diese neue Richtungsänderung
     mit dem sympathischen Anstrich unheilbarer Liebe versah.
    |209| Amy Catherine Robbins, von Wells Jane genannt, war eine ehemalige Schülerin von ihm, mit der er in der Schule freundlichen
     Umgang gepflegt hatte und die er auf dem gemeinsamen Stück Wegs zu Charing Cross, wo sie ihre jeweiligen Züge nahmen, mit
     seiner Wortgewandtheit bezauberte, ohne je mehr damit gewinnen zu wollen als das eitle Vergnügen, ein so hübsches und anbetungswürdiges
     Mädchen nur mit Worten in seinen Bann ziehen zu können. Diese angenehmen Gespräche ohne jeden Vorsatz zeitigten jedoch unerwartete
     Folgen. Seine Ehefrau Isabel wies ihn darauf hin, als sie an einem Wochenende aus Putney heimkehrten, wohin Jane und ihre
     Mutter sie eingeladen hatten. Sie behauptete, egal ob er es darauf angelegt habe oder es rein zufällig passiert sei, dieses
     Mädchen jedenfalls sei rettungslos in ihn verliebt. Wells konnte nur eine Augenbraue heben, als seine Frau ihn anflehte, sich
     nicht mehr mit der Exschülerin zu treffen, wenn er ihre Ehe nicht aufs Spiel setzen wolle. Die Wahl zwischen einer Gattin,
     die seinen Zärtlichkeiten nichts abgewinnen konnte, und einer lachenden, anscheinend ungehemmten Jane fiel ihm nicht schwer,
     und so packte Wells seine Bücher, seine Sachen und den Weidenkorb ein und zog in ein elendes Loch am Mornington Place, in
     einem heruntergekommenen Viertel im Nordwesten von London, an der Grenze von Euston und Camden Town. Sein Beweggrund war eine
     spielerische Neugier auf Janes schlanken Körper gewesen, der sich unter ihren Kleidern so verführerisch abzeichnete, mehr
     aber noch die Möglichkeit, ein ganz anderes Leben führen zu können als jenes, dessen unveränderliche

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