Die Landkarte der Zeit
die Zukunft zu reisen?», fragte Merrick dann mit dieser schlüpfrigen
Stimme, die in geschmolzenen Käse getaucht zu sein schien. «War er denn nicht neugierig? Ich frage mich manchmal, wie die
Welt in hundert Jahren aussehen mag.»
«Tja …», murmelte Wells und wusste wieder nicht, was er antworten sollte.
«Glauben Sie, dass irgendwann jemand eine Maschine erfinden wird, mit der man durch die Zeit reisen kann?»
«Das bezweifle ich», antwortete Wells entschieden.
«Aber Sie haben es doch beschrieben, Mr. Wells!», rief Merrick empört.
«Ebendarum, Mr. Merrick», erwiderte Wells in dem Bemühen, ihm seine Vorstellung von Literatur möglichst einfach darzustellen. «Glauben Sie
mir: Wenn der Bau einer Zeitmaschine möglich wäre, hätte ich nie im Leben darüber geschrieben. Ich möchte nur über Dinge schreiben,
die unmöglich sind.»
«Dann tut es mir leid, dass Sie meinetwegen nicht über einen schreiben können, der halb Mensch und halb Elefant ist», murmelte
Merrick.
Die Bemerkung seines Gastgebers verschlug ihm ein weiteres Mal die Sprache. Nachdem er das gesagt hatte, drehte Merrick den
Kopf zum Fenster, und Wells wusste nicht, ob er mit dieser Geste Betrübnis ausdrücken oder |202| ihm Gelegenheit geben wollte, ihn ausführlich zu betrachten. Was auch immer der Grund sein mochte, seine Augen hefteten sich
unverhohlen, beinah schon fasziniert, auf diesen Menschen, um bestätigt zu finden, was er bereits zur Genüge wusste. Merrick
hatte recht. Stände er nicht vor ihm, er wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass solch ein Wesen existieren könnte. Es sei
denn in der falschen Realität der Romane.
«Sie werden einmal ein großer Schriftsteller sein, Mr. Wells», prophezeite sein Gastgeber, immer noch aus dem Fenster schauend.
Merrick drehte sich zu ihm um.
«Sehen Sie sich meine Hände an, Mr. Wells», sagte er und streckte sie ihm entgegen. «Würden Sie glauben, dass diese Hände eine Kirche aus Kartonpappe falten können?»
Wells betrachtete die ungleichen Hände seines Gastgebers. Die Rechte war riesig und grotesk, während die Linke einem zehnjährigen
Mädchen gehören konnte.
«Wohl eher nicht», gab er zu.
Merrick nickte schwerfällig zum Zeichen der Zustimmung.
«Was zählt, Mr. Wells, ist unser Wille», sagte er und versuchte seiner matten Stimme einen dringlichen Ton zu verleihen. «Allein unser Wille.»
Etwas beschämt gestand er ihm, und seine Stimme sank auf die Tonlage eines sterbenden Kindes, das Kirchenmodell sei ein Geschenk
für eine Theaterschauspielerin, mit der er sich seit einigen Monaten schrieb. Es handle sich um eine gewisse Mrs. Kendall, sagte er, und wie Wells heraushörte, handelte es sich bei ihr um eine seiner größten |203| Wohltäterinnen. Er stellte sich eine Dame von Stand vor, dem Elend in der Welt gegenüber aufgeschlossen, solange es sich fern
ihrer eigenen vier Wände hielt, die im Unglück des sogenannten Elefantenmenschen eine originelle Möglichkeit gefunden hatte,
mit ihrem Geld Gutes zu tun. Als Merrick ihm erklärte, sie befinde sich zurzeit auf einer Tournee durch die Vereinigten Staaten
und er hoffe auf ihre baldige Rückkehr, um sie persönlich kennenlernen zu können, war Wells unwillkürlich gerührt angesichts
dieses Anflugs einer Liebesregung, der bewusst oder unbewusst in den Worten seines Gastgebers schwang. Zugleich empfand er
jedoch großen Schmerz und wünschte, die Tournee möge Mrs. Kendall noch eine Weile in Amerika zurückhalten, damit Merrick sich noch etwas länger am Spiegelglück seiner Karten erfreuen
konnte und nicht schon so bald feststellen musste, dass die unmögliche Liebe nur im Roman existiert.
Als sie ihren Tee getrunken hatten, bot Merrick ihm eine Zigarre an, die Wells dankbar entgegennahm. Sie erhoben sich und
traten ans Fenster, um dem Verbleichen des Tages zuzusehen. Wells bemerkte, dass Merrick das pulsierende Leben dort unten
mit einer Art ehrerbietiger Furchtsamkeit betrachtete. Er schien etwas in seinem Kopf zu wälzen.
«Wissen Sie, Mr. Wells», sagte er schließlich, «manchmal kann ich nicht anders, als das Leben dort unten als eine Theateraufführung zu sehen,
in der mir keine Rolle zugedacht ist. Wenn Sie wüssten, wie ich diese Menschen beneide …»
«Ich versichere Ihnen, dass sie Ihren Neid nicht verdienen, Mr. Merrick», warf Wells hastig ein. «Die Menschen, |204| die Sie dort unten sehen, sind nichts als Staubkörnchen.
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