Die Landkarte der Zeit
Er trat neben
seinen Cousin und klopfte ihm begeistert auf die Schulter. «Er erledigt den Ripper und rettet Marie Kelly.»
Wells zögerte. Er schaute zu seiner Frau, suchte ihre Zustimmung.
«Oh, Bertie, hilf ihm bitte», rief Jane aufgeregt. «Das ist ja so romantisch!»
Wells wandte seinen Blick wieder Andrew zu und versuchte den Funken von Neid darin zu verbergen, den die Bemerkung seiner
Frau in ihm entzündet hatte. Im Grunde wusste er jedoch, dass Jane das richtige Adjektiv gefunden hatte, um die Heldentat
zu beschreiben, die der junge |227| Mann auszuführen beabsichtigte. In seinem eigenen methodischen Dasein war kein Platz für eine Liebe wie diese; eine Liebe,
die Erdbeben verursachen, Kriege entfesseln und den Tod zur Folge haben konnte. Nein, er würde nie erfahren, woraus so eine
Liebe bestand. Er würde nie wissen, was es hieß, die Kontrolle zu verlieren, zu brennen, dem Instinkt ausgeliefert zu sein.
Doch trotz seiner Unfähigkeit, sich an solch ebenso glühende wie unheilvolle Leidenschaft zu verlieren, trotz seines kontrollierten
Verstandes, der sich nur harmlose Tänzeleien leistete, die nie im Leben zu krankhaften Obsessionen ausarten konnten, liebte
ihn Jane, und das wollte ihm plötzlich als ein unerklärliches Wunder erscheinen.
«Einverstanden», willigte er, mit einem Mal gut gelaunt, ein. «Schreiten wir zur Tat! Erledigen wir das Ungeheuer und retten
wir die Kleine!»
Von der zunehmenden Begeisterung des Schriftstellers angesteckt, zog Charles den Zeitungsausschnitt mit der Nachricht des
Todes von Marie Kelly aus der Tasche seines benommen dastehenden Cousins und trat damit zu Wells.
«Der Mord fand am 7. November 1888 gegen fünf Uhr morgens statt», sagte er, auf das Papier deutend. «Andrew müsste also ein paar Minuten früher
dort eintreffen, dem Ripper in der Nähe von Marie Kellys Zimmer auflauern und den Hundesohn erschießen, sobald er auftaucht.»
«Das scheint ein guter Plan zu sein», gab Wells zu. «Wir müssen allerdings berücksichtigen, dass die Maschine sich ausschließlich
in der Zeit bewegt, nicht aber im Raum. Das heißt, er wird sich nicht von hier fortbewegen. Wir müssen daher ein paar Stunden
zugeben, damit Ihr Cousin ausreichend Zeit hat, nach London zu gelangen.»
|228| Aufgeregt wie ein Kind, trat Wells zu der Zeitmaschine und machte sich am Armaturenbrett zu schaffen.
«Fertig!», rief er, als er die Einstellungen vorgenommen hatte. «Ich habe sie auf den 7. November 1888 programmiert. Jetzt müssen wir bis ungefähr drei Uhr morgen früh warten, bis die Reise losgehen kann. Dann hat
Ihr Cousin noch ausreichend Zeit, um nach Whitechapel zu gelangen und den Mord zu verhindern.»
«Ausgezeichnet!», rief Charles.
Dann schauten sich alle vier wortlos an und fragten sich, wie sie die fehlende Zeit bis zum Beginn der Zeitreise verbringen
sollten. Zum Glück befand sich eine Frau unter ihnen.
«Haben die Herren schon zu Abend gegessen?», fragte Jane, praktisch denkend, wie Frauen nun einmal sind.
Eine knappe Stunde später konnten Charles und Andrew empirisch bezeugen, dass der Schriftsteller eine hervorragende Köchin
geheiratet hatte. Am Tisch der kleinen Küche zusammengedrängt und den leckersten Braten verzehrend, den sie seit langem gekostet
hatten, war es ein Leichtes, die Stunden bis zum Morgengrauen verstreichen zu lassen. Während des Essens wollte Wells etwas
über die Reisen ins Jahr 2000 erfahren, und Charles sparte nicht mit Einzelheiten. In dem Gefühl, die Handlung einer seiner
geliebten Schundromane nachzuerzählen, berichtete er, wie sie in einer Straßenbahn namens Cronotilus die vierte Dimension
durchquert hatten und in dem zerstörten London der Zukunft angekommen waren, wo die Zeitreisenden, hinter einem Geröllhaufen
versteckt, die Entscheidungsschlacht zwischen dem Bösewicht Salomon und dem tapferen |229| Hauptmann Derek Shackleton beobachten konnten. Wells stellte jedoch so viele Fragen, dass Charles ihn nach Beendigung seines
Berichts unwillkürlich fragte, warum er nicht selbst an einer der Zeitreisen teilgenommen hatte, wenn ihn dieser Krieg der
Zukunft so interessierte. Wells verstummte jäh, und Charles begriff, dass er ihm, ohne es zu wollen, mit seiner Frage zu nahegetreten
war.
«Verzeihen Sie meine Frage, Mr. Wells», entschuldigte er sich rasch. «Ich hatte nicht bedacht, dass nicht jeder über die dazu erforderlichen hundert Pfund
verfügt.»
«Oh, es
Weitere Kostenlose Bücher