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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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einem vollgestellten
     Regal zu schaffen machte. Die anderen schauten schweigend zu.
    «Falls es Ihnen nichts ausmacht», sagte er, nachdem er gefunden hatte, wonach er gesucht hatte, «verwahren wir den Zeitungsausschnitt
     in dieser Schachtel. Wenn Sie zurückkommen, öffnen wir sie und sehen nach, ob es Ihnen gelungen ist, die Vergangenheit zu
     verändern. Wenn Sie Erfolg gehabt haben, sollte die Schlagzeile den Tod von Jack the Ripper melden.»
    Andrew nickte nicht sehr überzeugt und übergab ihm den Zeitungsausschnitt. Charles trat zu ihm, legte ihm mit feierlicher
     Geste die Hand auf die Schulter und schenkte ihm ein ermutigendes Lächeln, in dem Andrew auch eine Spur von Besorgnis zu erkennen
     glaubte. Dann trat Jane an die Maschine, wünschte ihm Glück und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Sichtlich zufrieden
     betrachtete Wells die Szenerie mit strahlendem Lächeln.
    «Sie sind ein Pionier, Andrew», verkündete er, nachdem die Ermutigungen beendet waren, als hielte er es für seine Aufgabe,
     den Akt mit einem jener Aussprüche zu beschließen, die einmal in Marmor gemeißelt werden. «Genießen Sie die Reise. Wenn in
     kommenden Jahrzehnten Zeitreisen zu ganz alltäglichen Unternehmungen werden, wird man es vielleicht als Verbrechen ansehen,
     die Vergangenheit zu verändern.»
    Um Andrew nicht noch mehr zu beunruhigen, bat er die anderen, ein paar Schritte zurückzutreten; nicht dass sie |233| sich verbrannten, wenn das Energiefeld aktiviert wurde, sobald Andrew den Hebel nach unten zog. Dieser sah sie zurückweichen
     und versuchte, sich seine Mutlosigkeit nicht anmerken zu lassen. Er atmete einmal tief durch. Er würde Marie retten, sprach
     er sich Mut zu. Er würde in die Vergangenheit reisen, in die Nacht ihres Todes, und ihren Mörder erschießen, bevor dieser
     Zeit fand, sie zu zerstückeln. Er würde den Lauf der Geschichte verändern und damit auch die achtjährige Qual auslöschen,
     die er durchlitten hatte. Er schaute auf das Datum, das die Armaturen anzeigten; das verfluchte Datum, das sein Leben zerstört
     hatte. Er konnte nicht glauben, dass er sie retten konnte, doch um seine Ungläubigkeit zu überwinden, brauchte er bloß diesen
     Hebel herunterzuziehen. So einfach war das. Dann war es völlig egal, ob er an Zeitreisen glaubte oder nicht. Er legte seine
     zitternde, schweißfeuchte Hand auf den Hebel und fühlte den kühlen Kristall seine Handfläche erfrischen, so unbegreiflich
     und absurd, weil es sich so normal und alltäglich anfühlte. Er warf den drei an der Dachbodentür wartenden Gestalten einen
     zögernden Blick zu.
    «Also, los», ermunterte ihn Charles.
    Andrew zog den Hebel.
    Zuerst geschah nichts. Doch dann vernahm er eine Art Schnurren, leise und anhaltend, eine leichtes Vibrieren in der Luft,
     das ihm das Gefühl gab, dem Verdauen der Welt zuzuhören. Im nächsten Augenblick steigerte sich das einschläfernde Geräusch
     zu einem übernatürlichen Krachen, und ein blauer Lichtblitz zerschnitt das Dunkel des Dachbodens. Ein weiterer, dem wieder
     der donnernde Knall vorausgegangen war, folgte, dann noch einer und ein weiterer, Funken stoben in alle Richtungen, als wollten
     sie |234| die Dimensionen des Raums ausloten. Plötzlich befand sich Andrew im Zentrum eines Gewitters von bläulichen Blitzen, an dessen
     Rand er Charles, Jane und Wells erkannte, welch Letzterer die Arme ausgebreitet hielt, um, Andrew vermochte es nicht zu sagen,
     die anderen vor dem Blitzgewitter zu schützen oder sie daran zu hindern, ihm zu Hilfe zu eilen. Vor seinen Augen brach die
     Luft, die Zeit, vielleicht sogar die ganze Welt oder alles zusammen auseinander. Die Wirklichkeit zerbrach. Jäh, wie der Schriftsteller
     es ihm angekündigt hatte, blendete ihn ein Blitz, der heller war als alle anderen und den Dachboden zum Verschwinden brachte.
     Andrew biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Zugleich hatte er das Gefühl abzustürzen.

|235| XV
    Er musste mindestens ein Dutzend Mal blinzeln, bevor er etwas erkennen konnte. Als der Dachboden sich ihm ohne erkennbare
     Veränderungen darstellte, beruhigte sich sein galoppierender Herzschlag. Erleichtert stellte er fest, dass ihm weder übel
     war noch der Kopf schmerzte. Und seit er erkannt hatte, dass er im Feuer der Blitze – von denen nur noch ein Geruch von verschmorten
     Schmetterlingen in der Luft lag – nicht verbrannt war, hatte sich sogar seine Angst verflüchtigt. Er spürte nur noch eine
     umfassende Anspannung

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