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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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seines Körpers, die er allerdings der Situation entsprechend ganz angemessen fand. Er ging schließlich
     nicht zu einem Picknick. Er würde die Vergangenheit umgestalten, verändern, was bereits geschehen war. Er, Andrew Harrington,
     würde die Zeit durcheinanderbringen. Da war es durchaus von Vorteil, angespannt zu sein.
    Als die Wirkung der Lichtblitze nachließ und er wieder klar sehen konnte, stieg er aus der Maschine, möglichst ohne ein Geräusch
     zu verursachen. Die Festigkeit des Fußbodens überraschte ihn, als hätte er erwartet, die Vergangenheit, nur weil sie ein Stück
     nicht mehr existierender Zeit war, bestehe aus Rauch, Nebel oder einer ähnlich substanzlosen oder nachgiebigen Materie. Doch
     wie er leicht wippend auf den Bretterdielen feststellte, war jene Realität |236| ebenso solide und wirklich wie die, die er verlassen hatte. Befand er sich jetzt im Jahr 1888? Er ließ seinen Blick argwöhnisch
     durch den immer noch im Halbdunkel liegenden Raum schweifen, ließ sich sogar wie ein Feinschmecker die Luft auf der Zunge
     zergehen, als könne ihr Geschmack ihm etwas verraten oder einen Hinweis darauf geben, dass er tatsächlich in der Zeit zurückgereist
     war. Er fand ihn, als er aus dem Fenster schaute. Die Straße sah aus, wie er sie in Erinnerung hatte, bloß die Kutsche, die
     sie hergebracht hatte, war nirgends zu sehen. Dafür stand im Garten ein Pferd, das vorher nicht da gewesen war. Sollte ein
     an einem Zaun angebundener Klepper das Einzige sein, was die Vergangenheit von der Gegenwart unterschied? Das schien ihm doch
     ein ärmlicher und recht einfallsloser Beweis. Enttäuscht beobachtete er den Himmel, ein glattes dunkles Tuch, darüber verstreut
     wie eine Handvoll in die Luft geworfener Sandkörner die Sterne. Auch dort zeigte sich nichts Ungewohntes. Nachdem er sich
     eine Weile vergebens umgeschaut hatte, zuckte er mit den Schultern und sagte sich, dass in seiner sichtbaren Umgebung ja nicht
     zwangsläufig Veränderungen erkennbar sein mussten, schließlich war er nur acht Jahre in der Zeit zurückgereist.
    Andrew schüttelte den Kopf. Er konnte sich nicht mit Vergleichen aufhalten. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen, und er verfügte
     dafür nicht über endlos viel Zeit. Er öffnete das Fenster, prüfte die Haltbarkeit der Efeuranken und ließ sich an ihnen hinab,
     wie Wells es ihm geraten hatte. Er versuchte, dies möglichst lautlos zu bewerkstelligen, um die Bewohner des Hauses nicht
     aufzuwecken. Der Abstieg gelang ohne Probleme, und als er festen Boden |237| unter den Füßen spürte, schlich er sich zu dem Pferd, das seinem Hinunterhangeln am Efeu ungerührt zugeschaut hatte. Andrew
     kraulte ihm beruhigend die Mähne. Es war ungesattelt, doch dann entdeckte Andrew einen Sattel und Zaumzeug, das über dem Zaun
     hing. Er konnte sein Glück kaum fassen. Er sattelte das Pferd mit ruhigen, sicheren Bewegungen, ließ dabei das völlig im Dunkeln
     liegende Haus jedoch nicht aus den Augen. Dann nahm er das Pferd beim Zügel und führte es unter besänftigenden Koseworten
     zur Straße. Er war selbst erstaunt, wie geistesgegenwärtig er zu Werke ging. Er schwang sich in den Sattel, warf noch einen
     letzten Blick in die Runde, stellte fest, dass immer noch alles enttäuschend ruhig war, dann machte er sich auf den Weg nach
     London.
    Erst als er schon ein Stück geritten und nur noch ein flüchtiger Schatten im Nachtdunkel war, wurde Andrew ganz und gar bewusst,
     dass er bald Marie Kelly wiedersehen würde. Diese Erkenntnis ließ ihn erzittern, und auch die Nervosität kehrte zurück. Ja,
     so unglaublich es ihm vorkam, in jener Zeit hatte sie noch gelebt. Zu dieser Stunde war sie noch nicht ermordet worden. Sie
     dürfte jetzt im
Britain
sein, wo sie sich betrank, um ihren feigen Liebhaber zu vergessen, bevor sie taumelnden Schritts in die Arme des Todes sank.
     Aber er erinnerte sich, dass er sie nicht sehen, nicht in die Arme schließen, nicht seinen Kopf in ihre Halsbeuge legen durfte,
     um ihren begehrten Duft einzuatmen. Nein, Wells hatte es ihm verboten, weil jene kleine Zärtlichkeitsgeste das Zeitgefüge
     verändern und die Zerstörung der Welt herbeiführen konnte. Er musste sich damit begnügen, den Ripper zu töten und zurückzukehren,
     woher er gekommen war, so wie der Schriftsteller |238| es ihm befohlen hatte. Sein Handeln musste schnell und gut berechnet sein, ähnlich einem chirurgischen Eingriff, dessen Folgen
     der Patient erst nach dem Aufwachen

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