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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Raubtiers, welches weiß, dass es für sein Opfer kein
     Entkommen gibt. Andrew streckte wieder den Kopf hinter der Mauerecke hervor und sah voller Schrecken, wie sich eine riesige
     Gestalt ohne Hast und mit forschendem Blick dem Zimmer seiner Geliebten näherte. Abgründiger Schwindel erfasste ihn. Er hatte
     ja in den Zeitungen gelesen, was sich nun vor seinen Augen abspielen würde. Es war, als wohnte er einer Theateraufführung
     bei, deren Handlung er auswendig kannte und bei der er nur zusehen konnte, wie die Darsteller agierten. Der Mann blieb vor
     der Tür stehen und warf einen vorsichtigen Blick durch das zerbrochene |241| Fenster, als wollte er sich buchstabengetreu an die Chronik des Geschehens halten, die, obwohl sie erst noch geschrieben werden
     würde, Andrew acht Jahre lang in seiner Jackentasche bei sich getragen hatte. Ein Zeitungsartikel, der ihm jetzt aufgrund
     seiner Zeitakrobatik wie die Prophezeiung einer Tat vorkam anstatt wie ihre Beschreibung. Doch im Unterschied zu jener Nacht
     war er jetzt zur Stelle und bereit, ihr einen neuen Verlauf zu geben. So gesehen kam ihm das, was er zu tun im Begriff stand,
     wie die Übermalung eines fertigen Gemäldes vor, als würde er den
Drei Grazien
oder dem
Mädchen mit dem Perlenohrring
ein paar Pinselstriche hinzufügen.
    Nachdem er freudig festgestellt hatte, dass sein Opfer ohne Begleitung war, warf der Ripper einen letzten Blick in die Runde
     und nahm offensichtlich befriedigt, ja sogar frohlockend die ihm so gelegen kommende Stille zur Kenntnis, die es ihm ermöglichen
     würde, sein Verbrechen unerwartet und angenehm ungestört verüben zu können. Diese Haltung gab Andrew den letzten Anstoß, aus
     seinem Versteck hervorzuspringen, ohne überhaupt die Möglichkeit ins Auge zu fassen, von dort aus zu schießen. Den Mann aus
     dieser Entfernung zu töten erschien ihm plötzlich zu kalt, zu unpersönlich, zu unbefriedigend. Der bebende Zorn in ihm forderte,
     dem Ungeheuer das Leben auf direktere, persönlichere Weise zu entreißen. Den Kerl vielleicht mit eigenen Händen zu erwürgen,
     ihn mit dem Revolverknauf totzuschlagen oder auf sonst eine Art, die ihn an seiner Vernichtung körperlich teilhaben ließ.
     Er wollte, dass dessen verkommenes Leben langsam erlosch und dass er bestimmte, wie lange dies dauern sollte. Doch als er
     entschlossen auf das Ungeheuer zuschritt, begriff |242| Andrew, dass die schiere Größe seines Gegners und seine eigene Unerfahrenheit in Kämpfen Mann gegen Mann jede Strategie unratsam
     erscheinen ließ, in der nicht der Revolver zum Einsatz kam, den er an seinen Oberschenkel gedrückt hielt.
    Von der Tür aus beobachtete der Ripper mit stiller Neugier, wie er sich ihm näherte, und fragte sich vielleicht, woher dieser
     Mensch so plötzlich kommen mochte. Andrew blieb vorsorgliche fünf Meter vor ihm stehen, wie ein Kind, das den möglichen Prankenhieb
     eines Löwen fürchtet, falls es dem Käfig zu nahe kommt. Sein Gesicht konnte er in der Dunkelheit nicht genau erkennen, doch
     das war vielleicht auch besser so. Er hob den Revolver und zielte, Charles’ Rat befolgend, auf die Brust. Hätte er in diesem
     Augenblick ohne nachzudenken abgedrückt, als wäre dies nur eine weitere Bewegung innerhalb der ungestümen Choreographie, der
     er offenbar folgte, hätte alles ohne Probleme seinen Fortgang genommen. Es wäre eine rasche, gut berechnete Tat wie ein chirurgischer
     Eingriff gewesen. Unglücklicherweise aber dachte Andrew über das nach, was zu tun er im Begriff stand. Mit einem Mal wurde
     ihm klar, dass er auf einen Menschen schießen würde und nicht auf einen Hirsch oder auf eine Flasche. Und die Tatsache, dass
     es so einfach und jedem beliebigen Individuum möglich sein sollte, schien ihn zu bedrücken und seinen Finger am Abzug zu lähmen.
     Der Ripper legte halb überrascht, halb spöttisch den Kopf auf die Seite, und dann sah Andrew, wie seine Hand mit dem Revolver
     zu zittern begann. Mit seiner Entschlossenheit war es jetzt vorbei, und der Ripper nutzte die Sekunde des Zögerns, um mit
     blitzschneller Bewegung ein Messer aus dem Mantel zu ziehen und sich, |243| Andrews Kehle suchend, auf ihn zu stürzen. Ironischerweise war es dieser wilde Angriff, der wieder Bewegung in Andrews Finger
     brachte. Ein kurzer, fast beiläufiger Knall zerriss die Stille der Nacht. Der Schuss traf den Mann mitten in die Brust. Immer
     noch mit dem Revolver auf ihn zielend, sah Andrew, wie er ein paar Schritte

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