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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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betrachten konnte, das hieß, wenn er wieder in seine Zeit zurückgekehrt war.
    Whitechapel lag in unheimlicher Stille versunken. Ihn überraschte, dass er nicht die geringste Spur des üblichen Lärms vernahm,
     bis ihm einfiel, dass Whitechapel zu dieser Zeit ein verfluchtes, in Angst dahinvegetierendes Viertel war, durch dessen Gassen
     das Ungeheuer Jack the Ripper marodierte und mit seinem Messer den Tod säte. Als er in die Dorset Street einbog, verlangsamte
     er den Schritt seines Pferdes, weil er erkannte, dass dessen Hufgetrappel in der herrschenden Stille laut wie das Hämmern
     in einer Schmiede klingen musste. Ein paar Schritte vor dem Eingang zu den Apartments von Miller’s Court stieg er ab und band
     das Pferd an einem Eisengitter an, wo das Licht der Straßenlaterne nicht mehr ganz hinreichte, sodass das Tier möglichst wenig
     auffiel. Mit einem kurzen Blick in die Runde vergewisserte er sich, dass sich außer ihm niemand auf der Straße befand, dann
     schlüpfte er schnell durch den Torbogen, hinter dem es zu den Apartments ging. Alle Mieter schliefen, daher gab es kein Licht,
     das die Gasse erhellte, doch Andrew kannte sich gut genug aus, sodass er den Weg auch mit verbundenen Augen gefunden hätte.
     Während er so in die ihm wohlvertraute Umgebung vordrang, befiel ihn eine düstere Melancholie, die ihren Höhepunkt in dem
     Moment fand, als er vor dem ebenfalls dunklen Fenster von Marie Kellys Zimmer stehenblieb. Die Wehmut wurde jedoch von einer
     tiefen Verblüffung hinweggefegt, als ihm bewusstwurde, dass er im selben Augenblick, in dem |239| er vor diesem ärmlichen Zimmer stand, das sein Paradies und seine Hölle gewesen war, von seinem Vater in Harrington Mansion
     geohrfeigt wurde. In dieser Nacht gab es, dem Wunder der Wissenschaft geschuldet, zwei Andrews auf der Welt. Er fragte sich,
     ob sein anderes Ich auch ihn spüren konnte, durch ein Kribbeln auf der Haut vielleicht oder ein leichtes Stechen in den Eingeweiden,
     wie man es Zwillingen nachsagte.
    Das Geräusch von Schritten riss ihn aus seinen Gedanken. Atemlos verbarg er sich hinter der Mauerecke des Nachbarapartments.
     Dies Versteck hatte er vom ersten Moment an ins Auge gefasst, da es ihm nicht nur das Sicherste zu sein schien, sondern sich
     auch nur ein Dutzend Schritte von der Tür zu Maries Zimmer entfernt befand; die ideale Distanz, um sowohl deutlich sehen als
     auch auf den Ripper schießen zu können, falls er sich doch nicht traute, diesem direkt entgegenzutreten. Er drückte den Rücken
     gegen die Wand, zog den Revolver und lauschte den sich nähernden Schritten. Die Füße, die ihn aufgeschreckt hatten, schlugen
     einen schlurfenden, unregelmäßigen Takt, wie von einem Verletzten oder Betrunkenen. Er begriff sofort, dass dies nur die Schritte
     seiner Geliebten sein konnten, und sein Herz erzitterte wie ein Blatt am Baum, das von einem Windstoß getroffen wird. Wie
     in vielen Nächten zuvor kam Marie Kelly auch in dieser Nacht stolpernd und taumelnd aus dem
Britain Pub
nach Hause, nur dass diesmal sein anderes Ich nicht anwesend war, um sie zu entkleiden, aufs Bett zu legen und ihren alkoholgetränkten
     Schlaf zuzudecken. Andrew spähte vorsichtig um die Ecke. Seine Augen hatten sich so an die Dunkelheit gewöhnt, dass er die
     schwankende Gestalt seiner Geliebten vor der |240| Tür ihres Zimmers deutlich erkennen konnte. Er musste sich zusammenreißen, um nicht zu ihr zu laufen. Er fühlte seine Augen
     feucht werden; sah, wie sie sich aufrichtete und das betrunkene Schwanken in den Griff zu kriegen versuchte; sich das Hütchen
     aufs Haar drückte, das ihr bei all dem Getaumel vom Kopf zu fallen drohte; wie sie einen Arm durch das Loch im Fenster steckte
     und endlose Sekunden lang mit dem Türriegel kämpfte, bis sie ihn endlich aufbekam. Dann verschwand sie im Zimmer, knallte
     höchst unpassenderweise die Tür hinter sich zu, und bald darauf flackerte ein Lichtlein auf, das die vor der Tür sich zusammenballende
     Dunkelheit ein wenig erhellte.
    Andrew lehnte sich an die Wand und wischte die Tränen aus seinen Augen. Doch kaum hatte er dies getan, schreckten ihn neue
     Schritte auf. Wieder kam jemand durch das schmale Gässchen heran. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff, dass dies
     nur der Ripper sein konnte. Er hörte, wie seine Stiefel mit einer die Seele sträubenden eiskalten Vorsicht über das Kopfsteinpflaster
     herankamen. Es waren die Bewegungen eines selbstgewissen unbarmherzigen

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