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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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zurücktaumelte. Ebenso überrascht, die Waffe benutzt
     wie den unvermuteten Angriff unbeschadet überstanden zu haben, ließ er den rauchenden Revolver sinken. Dass der letzte Eindruck
     falsch war, merkte er im nächsten Augenblick an einem stechenden Schmerz in der linken Schulter. Ohne den Ripper aus den Augen
     zu lassen, der vor ihm hin und her schwankte wie ein Bär, der sich auf die Hinterbeine erhoben hat, tastete er mit den Fingern
     nach dem Ursprung des Schmerzes und stellte fest, dass das Messer zwar seine Kehle verfehlt, aber sein Jackett aufgeschlitzt
     und ihm eine Fleischwunde an der Schulter beigebracht hatte. Trotz der fröhlichen Unbekümmertheit, mit der das Blut hervorquoll,
     schien es keine tiefe Wunde zu sein. Der Ripper indessen zögerte immer noch, ihm zu zeigen, ob sein Schuss tödlich gewesen
     war oder nicht. Nach seinem plumpen Tanz klappte er zusammen, das blutverschmierte Messer glitt ihm aus der Hand und schlitterte
     über das Kopfsteinpflaster, bis es in der Dunkelheit nicht mehr zu sehen war. Dann stieß er einen heiseren Grunzlaut aus und
     sank auf ein Knie, als hätte er in seinem Mörder einen Fürsten erkannt. Er ließ seine Kehle noch ein paar Varianten des vorherigen
     Röchelns produzieren, etwas leiser allerdings und unzusammenhängender. Als Andrew schon fast die Nase voll hatte von diesem
     Sterbensgetue und überlegte, ob er ihn mit einem Fußtritt aufs Pflaster schicken sollte, schlug |244| der Mann überraschend heftig hin und blieb regungslos zu seinen Füßen liegen.
    Gerade wollte Andrew niederknien, um den Puls des Mannes zu fühlen, als Marie Kelly, zweifellos vom Kampfeslärm aufgeschreckt,
     die Tür aufriss. Bevor sie ihn erkennen konnte und die Versuchung überwindend, ihr nach acht Jahren Totseins ins Gesicht zu
     schauen, machte Andrew auf dem Absatz kehrt. Er ließ den Körper liegen und rannte dem Ausgang der Gasse zu. Hinter sich hörte
     er Maries Stimme «Mörder! Mörder!» rufen. Als er den Torbogen erreicht hatte, gestattete er sich einen Blick über die Schulter.
     Da sah er sie in einem zittrigen Lichtkreis knien und mit zärtlicher Geste dem Mann die Augen schließen, der sie in einer
     lang zurückliegenden Zeit, in einer Welt, die nur noch einem Traum glich, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt hatte.
    Das Pferd stand noch da, wo er es angebunden hatte. Atemlos von seinem Lauf, schwang er sich in den Sattel und machte sich
     aus dem Staub. Trotz seiner Erregung fand er den Weg durch das Gassengewirr zurück. Erst als er London hinter sich gelassen
     hatte, konnte er sich allmählich beruhigen und seine Tat verdauen. Er hatte einen Mann getötet. Aber wenigstens hatte er in
     Notwehr gehandelt. Außerdem handelte es sich nicht um irgendeinen Mann. Er hatte Jack the Ripper getötet, hatte Marie Kelly
     das Leben gerettet, hatte ungeschehen gemacht, was bereits geschehen war. Er trieb das Pferd an und konnte es kaum erwarten,
     in seine Zeit zurückzukehren, um sich dort der Auswirkungen seiner Tat zu versichern. Wenn alles gutgegangen war, würde Marie
     nicht nur leben, sondern wahrscheinlich auch seine ihm angetraute Gattin sein. Ob er ein |245| Kind mit ihr hatte? Zwei, drei? Er schlug auf das Pferd ein, trieb es ans Ende seiner Kraft, als fürchte er, diese idyllische
     Gegenwart könne sich wie eine Fata Morgana verflüchtigen, wenn er sie nicht rechtzeitig erreichte.
     
    Woking lag noch in der gleichen beschaulichen Stille, die ihn Stunden zuvor so misstrauisch gemacht hatte; doch jetzt war
     er dankbar für diese Ruhe, die es ihm ermöglichen würde, seine Mission ohne weitere Zwischenfälle zu Ende zu bringen. Er sprang
     vom Pferd und öffnete das Gatter, doch dann erstarrte er. Neben der Haustür wartete eine Gestalt auf ihn. Andrew dachte sofort
     an Wells’ Freund und begriff, dass es sich um einen Zeitwächter handeln musste, der den Auftrag hatte, ihn zu eliminieren,
     weil er die Vergangenheit manipuliert hatte. Er versuchte, sich nicht von Panik überwältigen zu lassen, zog so schnell er
     konnte den Revolver aus der Tasche und zielte auf die Brust, wie sein Cousin es ihm beim Ripper zu tun geraten hatte. Als
     der Eindringling sah, dass Andrew bewaffnet war, warf er sich zur Seite und rannte durch den Garten davon, bis ihn die Dunkelheit
     verschluckte. Ohne recht zu wissen, was tun, versuchte Andrew, seinen katzenhaften Bewegungen mit dem Revolver zu folgen,
     bis er ihn über das Gatter springen sah. Erst als die hastenden

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