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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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zu führen. Halt durch, befahl Wells sich selbst, kein Zeitsprung jetzt, verdammt noch mal, noch nicht! Dann stürmte er los, zog den Arm nach hinten und schleuderte die Harpune auf den undeutlichen Umriss des Gesandten, überzeugt, danebenzuwerfen, vielleicht sogar Allan oder Reynolds zu treffen. Zu seiner Überraschung jedoch sah er sie auf den Rücken des Ungeheuers treffen und die harte Schale durchdringen, die dessen ganzen Körper bedeckte. Der Gesandte stieß einen heulenden Schmerzenslaut aus und versuchte unbeholfen umhertorkelnd, sich die Harpune aus dem Leib zu reißen, wobei er sich vor Schmerzen wand und sein Aussehen zu verändern begann, sodass Wells in einer rasenden Metamorphose alle irdischen Körper aufscheinen sah, die der Gesandte bislang angenommen hatte. Als die Dynamitpatronen explodierten, zerplatzte er in tausend Stücke mit einem letzten heiseren Schrei, der Wells schon so weit entfernt klang wie die Eisberge am Horizont. Ehe er ausweichen konnte, ging ein Regen von Fleischstücken und zerborstenen Knochen und grünfleckigem Blut auf ihn nieder, das ihn kurz als schillernde Gestalt im Schnee kniend zeigte. Der Rauch der Explosion verzog sich, und da sah er Reynolds und Allan auf dem Eis sitzen und mit einer Mischung aus Staunen und Dankbarkeit zu ihm herüberschauen, gesund und unverletzt, aber auch irgendwie körperlos, wie auf ein an einer Wäscheleine in die Sonne gehängtes Bettlaken gemalt.
    Er hatte es geschafft, und nun konnte sich Wells diesen merkwürdigen Empfindungen überlassen, die gegen ihn anbrandeten. Er hatte den Gesandten besiegt, dachte er, während Anspannung und körperliche Erschöpfung in ein immer stärker werdendes Schwindelgefühl ausarteten. Dann spürte er sich seines Körpergewichts verlustig gehen, als steckte er nicht mehr in der eigenen Haut, und damit auch die schmerzende Erschöpfung abzulegen, die ihm eben noch zu schaffen gemacht hatte, ihn sogar zusammengehalten zu haben schien. Doch diese Empfindung dauerte nur eine Sekunde. Schon im nächsten Moment fühlte sich Wells wieder zusammengefügt und unter der Last des eigenen Gewichts in den Schnee sinken. Brechreiz stieg ihm die Kehle hoch, und er musste sich übergeben. Das Würgen ging in einen heiseren Husten über, währenddessen er wieder zu sich zu kommen suchte. Als sein Blick sich klärte, stellte er fest, dass er immer noch im Schnee kniete, der zu seiner alten Beschaffenheit zurückgefunden hatte und seine Hosenbeine sich feucht anfühlen ließ, wie es immer schon die Eigenart von Schnee gewesen war. Als er jedoch weder Allan noch Reynolds irgendwo erblicken konnte, wusste Wells, dass er sich nicht mehr in derselben Zeit befand.

XL
    Aber wie konnte er wissen, in welchem Jahr er gelandet war inmitten dieser unermesslichen Eiswüste, die sich in nichts von der unterschied, aus der er gekommen war, und in der es weit und breit nicht die Spur von menschlichem Leben gab? Er konnte ebenso gut in die Vergangenheit wie in die Zukunft gereist sein. Doch das bedeutete nicht viel: Wo immer er sich befand, es waren dieselben Umstände wie die der Gegenwart, der er entronnen war, immer noch der Kälte und der Erschöpfung ausgesetzt, nur dass er jetzt auch noch allein war. Als die Übelkeit abgeklungen war, richtete Wells sich auf und ließ seinen Blick umherschweifen, der ihm bestätigte, dass er vollkommen allein war. Keine Spur mehr von der
Annawan
, von den Überresten des Ungeheuers, von seinen Kameraden. Das reine Nichts. Und was konnte er daraus schließen? Erbärmlich wenig, so viel stand fest. Die Abwesenheit des Schiffs konnte bedeuten, dass er sich in einer Zeit vor 1830 befand. Ebenso gut aber konnte er sich auch in einer Zukunft befinden, die fern genug war, dass die Überreste der
Annawan
sich aufgelöst hatten. Welche dieser Möglichkeiten auch zutraf, Tatsache blieb, dass er sich allein irgendwo in der Antarktis befand, ohne jede Versorgung den Elementen ausgesetzt, ohne Hoffnung, ohne die geringste Aussicht auf Überleben. Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit Panik, sodass er seinen hilflosen Zorn minutenlang ins Nichts hinausbrüllte. Einen besseren Ort dafür hätte er nicht finden können, denn schreien war dort so gut wie gar nicht schreien. Dann schloss ihn die Erschöpfung sanft in ihre Arme, und er fand sich annähernd bereit, dem Tod durch Erfrieren oder Entkräftung ins Auge zu sehen. Auf jeden Fall würde es ein schrecklicher Tod werden. Sein einziger Trost war, den Gesandten

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