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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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getötet zu haben, auch wenn er keine Möglichkeit hatte, herauszufinden, ob damit auch die Invasion zunichtegemacht worden war. Er redete sich aber ein, dass dies der Fall sein werde; hatte der Gesandte doch selbst gesagt, dass seine Brüder langsam zugrunde gingen, die Erdatmosphäre sie allmählich vergiftete. Ja, er wollte in dem Glauben sterben, der Zeit, aus der er kam, den Frieden gebracht zu haben.
    Ziellos und ohne Grund marschierte er los; einfach deswegen, weil die Kälte besser zu ertragen war, wenn er sich bewegte. In welche Richtung er ging, kümmerte ihn nicht – er bezweifelte, dass er sie überhaupt feststellen konnte, oder dass ihm dies etwas genützt hätte –; er ließ sich einfach treiben in dem trüben Dämmerlicht, das ihn wie ein Mantel der Hoffnungslosigkeit umgab. Nichts in seinem bisherigen Leben hatte ihm so viel Angst gemacht wie seine jetzige Lage, in der ihn ein langsamer, einsamer, vielleicht von Fieberträumen und brüllendem Wahnsinn begleiteter Tod erwartete. Kein Mensch hatte einen solchen Tod verdient; einen Tod hinter dem Rücken der Menschheit, die keinerlei Notiz davon nahm. Würdelos und ohne Beistand würde er sterben, als wäre sein Tod eine deprimierende Theateraufführung, die niemand besuchte. Er würde nicht einmal wissen, wann er starb, welches Datum auf seinem hypothetischen Grabstein stände. So zu sterben war dasselbe wie nicht zu sterben.
    Ein Schneesturm kam auf. Innerhalb von Sekunden sah Wells nichts mehr um sich herum. Atmen war plötzlich so, als würde er winzige, scharfe Messer schlucken, die ihm auf dem Weg zur Lunge die Kehle aufrissen. Schnee häufte sich auf seiner Kleidung, verdoppelte ihr Gewicht und machte sein richtungsloses Gehen noch beschwerlicher, bis ihn die Erschöpfung, vor allem aber die Einsicht in die Nutzlosigkeit seines Tuns wieder auf die Knie sinken ließ. Die Kälte wurde unerträglich, und er begriff, dass er erfrieren, am eigenen Leib den furchtbaren Prozess der Vereisung erleben würde. Er hatte gelesen, dass sich zuerst in den Finger- und Zehenspitzen winzige Kristalle bildeten, sodass das Blut sie durch die verengten Gefäße nicht mehr erreichte. Die Folgen wären unerträgliche Schmerzen in den Extremitäten, die er nach und nach nicht mehr würde bewegen können. Danach kämen die Arrhythmien, dann eine zunehmende Gefühllosigkeit im ganzen Körper, bis er Harn und Stuhl nicht mehr kontrollieren könnte. Als Nächstes käme fortschreitender Atemstillstand hinzu, und nach einem langen, quälenden Delirium würde er das Bewusstsein verlieren und sterben, ohne es zu merken.
    Entsetzt über das, was ihn erwartete, warf Wells sich in den Schnee, fluchte, weinte und lachte und wünschte, er hätte nie in Büchern gelesen, was er im Begriff stand, am eigenen Leib durchzumachen. Die Zeit verging aus purer Untätigkeit; vielleicht aber verging sie gar nicht, denn es gab nichts, was darauf hinwies. Die Kälte wurde so intensiv, dass sie die Bedeutung des Wortes hinter sich ließ und zu etwas anderem wurde, bis Wells nicht mehr sagen konnte, wo sie aufhörte und wo er selbst begann, denn sie beide schienen eins geworden zu sein. Er war die Kälte, und so sehr er sich anstrengte, die Grenzen seines Körpers zu ertasten, fand er keinen spürbaren Halt oder Hinweis, der ihm zeigte, wo sein Fleisch aufhörte und die Umgebung begann. Er war so gefühllos, dass er schon fürchtete, gestorben zu sein, ohne dass sein Körper es mitgekriegt hatte. Aber, dachte er, er konnte noch Gedanken hervorrufen, sich Janes Lächeln vorstellen, und das bedeutete, dass er nicht gestorben war, wenngleich es nicht mehr lange dauern würde, bis er erlosch wie ein Feuer, das niemand mehr anfacht.
    Da übermannte ihn blanke Panik, und zugleich spürte er, wie in irgendeinem vereisten Winkel seines Hirns ein vertrautes Schwindelgefühl entstand, eine Übelkeit heraufzog, die bald seinen ganzen Kopf durchflutete. Und dann verschwand die Kälte, die ihn so in Todesangst versetzt hatte, weil er selbst verschwand. Einen Moment lang empfand Wells eine unendliche, lustvolle Erleichterung; doch eine Sekunde später fand er sich wieder eingeschlossen in sich selbst, gefangen in dem eisigen, gefühllosen Sarg des eigenen Körpers. Etwas Warmes, das vielleicht seine sich auflösende Seele war, stieg ihm in die Kehle, und er musste sich in den Schnee erbrechen. Doch das minderte das Gefühl der Übelkeit nicht. Im Gegenteil. Wells spürte, wie es wieder stärker wurde, wie er

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