Die langen Schatten der Erleuchtung
hatte Jojo geantwortet, „Hanif und ich, wir schauen nach innen, denn da ist wirklich nichts im Äußeren, was der Mühe wert wäre. Aber …“, und dabei blickte er Hanif an „lass dich nicht in die Irre führen – da ist auch nichts im Inneren. Eigentlich, Lissy, sind wir auch schon alle tot und leben nur noch ein wenig in unseren alten Möbeln!“
„Echt stark, wie ihr drauf seid! Ich würde abdrehen, wenn ich in Käthchens Bett schlafen müsste!“, meinte Lissy kopfschüttelnd, als sie das Zimmer wieder verließ.
„Meister Jojo, du hast mir all die Jahre immer wieder gesagt, ich solle mich meiner selbst erinnern und beobachten – alles, was es zu beobachten gibt. Langsam erkenne ich, dass auch in dieser Welt da draußen sich alles wiederholt. Und du hast Recht, es scheint nicht der Mühe wert zu sein, danach zu greifen und es festhalten zu wollen. Aber was meinst du damit, dass da auch nichts im Inneren wäre…?“
„Schau einmal, Hanif, als Käthchen vor kurzer Zeit noch diese Räume bewohnte, hat sie einen großen Raum eingenommen, nicht nur körperlich. Und ab und zu taucht sie immer noch in unserem inneren Raum auf. Aber der große Raum der Einfachheit ist kein Ding von einer bestimmten Ausdehnung – von Länge, Breite und Tiefe. Schließlich sind wir nur hierher gekommen, Hanif, um unsere Einfachheit auf die Probe zu stellen. Dieser Raum, von dem ich spreche, ist dimensionslos – er ist überall und nirgends. Da ist letztlich nichts im Inneren.“
„Aber ich habe doch tiefe innere Erfahrungen gemacht, seitdem wir zusammen sind. Was ist mit all den leuchtenden Visionen und der Glückseligkeit?“
„Sie mag noch so heilig, noch so tief und erfüllend sein, mein lieber Hanif, sie erscheint immer noch in der Dimension der Begrenztheit – Länge, Breite, Höhe oder Tiefe. Die offene Weite des unendlichen Raumes ist nichts von alledem….“
Benommen von soviel unvorstellbarer Weite wankte Hanif über Käthchens Terrasse, wo er sich still an den Frühstückstisch setzte.
Gerhard hatte Käthchens sechsrädrige Laufhilfe in den Garten gestellt. „Nächsten Frühling können wir da schön Hängegeranien reinstellen! Das macht sich bestimmt gut!“
Jetzt saßen sie alle gemeinsam vor den Resten ihres sonntäglichen Frühstücks. Jojo hatte sich schon etwas abseits auf die Bank unter dem Fliederbaum gesetzt, dessen Beeren jetzt prall und dunkel in Trauben an den Ästen hingen. Die ersten Blätter fielen auf die Terrasse…
„Das ist mir schon aufgefallen“, begann Hanif, „viele eurer Bäume sind krank, ihre Blätter sind gelb gefärbt und sterben ab!“
„Die Bäume sind nicht krank, Hanif“, antwortete Harald, „es wird Herbst. Der Sommer geht seinem Ende zu, es wird langsam kälter. Das ist nun mal so!“
„Bei uns ist das ganz anders“, sagte Hanif, noch halb in Gedanken an das Gespräch mit Jojo, „da gibt es eine Regenzeit, aber die Blätter der Bäume verfärben sich nicht und sterben auch nicht ab!“
„Bei uns gibt es vier Jahreszeiten, Hanif! Frühling, Sommer, Herbst und Winter! Im Frühling werden die Bäume grün, im Sommer reifen die Früchte, im Herbst fallen ALLE Blätter ab und dann wird es Winter!“, antwortete Harald.
„Wieso das? Bei uns bleiben die Blätter immer an den Bäumen!“
„Hanif! Die Erde dreht sich um die Sonne. Einmal im Jahr! Und wir verändern bei der Umrundung der Sonne unseren Abstand zur ihr. Dadurch kommt es zu den Jahreszeiten!“
„Hast du gesagt, die Erde dreht sich um die Sonne, Harald?“
„Ja, natürlich!“
„Also, bei uns nicht! Jeder kann doch sehen, dass sie auf- und untergeht! Oder habt ihr hier auch eine andere Sonne?“
„Das sieht nur so aus, Hanif, als ob die Sonne untergeht! In Wirklichkeit dreht sich die Erde um die Sonne!“
Hanif erhob sich und schlenderte zum Fliederbaum zu Jojo. Er beugte sich zu ihm hinab, tippte ihm prustend auf die Schulter und machte mit dem Zeigefinger der rechten Hand kreisende Bewegungen, als rühre er in einem Kochtopf herum. Er flüsterte ihm dabei etwas ins Ohr und brach in sein meckerndes Greisenlachen aus. Selbst Jojo strahlte jetzt breit über das Gesicht.
„Ich habe dir immer gesagt, Hanif, die Menschen hier sind bei aller Geschicklichkeit und Beschlagenheit auch sehr naiv! Das kannst du daran sehen, dass sie alles glauben, was man ihnen erzählt, wie … die Erde dreht sich um die
Weitere Kostenlose Bücher