Die langen Schatten der Erleuchtung
einem Kopierer die leiseste Ahnung hat! Egon hat noch gedacht, na, dann arbeitet er eben als Abteilungsleiter in seiner ehemaligen Hauptabteilung. Er könnte dann Frau Runge in ihrem neuen Posten unterstützen, bis sie den richtigen Durchblick hat! Pustekuchen! Selbst für diesen Posten wollen sie ihn nicht haben! Egon ist auch völlig fertig, denn die Deutsche Assekuranz ist sein Leben!“
„Aber hättest du dich nicht an den Betriebsrat wenden können, Harald?“
„Ja, sicher! Aber das bringt nichts, der Betriebsrat hat dieses ganze Sozialpaket dem Vorstand sogar abgerungen! Und das Ganze ist durch mich mit in Gang gekommen, weil ich damals bei meiner Krankheit den Kopierer umgerissen habe, als ich in Ohnmacht fiel. Da kam natürlich gleich so ein Scheißvertreter, der einen supermodernen Kopierer zur Verfügung gestellt hat. Und der hat dann Egon erst mal aufgeklärt, was für Kopierer in den anderen Versicherungen stehen. «Dagegen ist dieser hier Kartoffeldruck aus der Steinzeit! Die neuesten Modelle haben die fünffache Leistungsfähigkeit, übernehmen auch gleich buchbinderische Arbeit, usw. Ich bin ehrlich zu Ihnen, Herr Maltzahn», hat er dann gesagt, «aber sie hängen mit Ihrer Abteilung Lichtjahre hinter den anderen Versicherungen hinterher.» Diese Vertreter haben ja überall ihre Finger drin. Und durch irgendwelche Kanäle wusste er Bescheid und hat auch Frau Runge besucht. Die Folge war, dass sie dann zu mir gesagt hat, sie wollen einen Hochleistungs-Kopierer anschaffen! Das ist eine völlig neue Technik! «Trauen Sie sich zu, an einem Computer zu arbeiten, Herr Mahnke? Denn dieser Kopierer ist nichts anderes als ein Computer! Seien Sie ehrlich!» Ihr wisst ja, ich stehe mit diesem neumodischen Kram wie Videorecorder, Computer usw. auf Kriegsfuß. Selbst mit einem Handy kann ich nicht richtig umgehen! «Sehen Sie, Herr Mahnke», hat Frau Runge gemeint, «dann ruinieren Sie sich nur die Nerven, schaffen die Arbeit nicht und werden noch krank! Seien Sie doch froh, dass Sie jetzt schon mit 55 Jahren in den Ruhestand gehen können. Bei 90% Prozent Ihrer Bezüge. Und mit 60 gehen Sie dann in Rente und bekommen dann zusätzlich noch die volle Betriebsrente!» Sie hat ja Recht, die Frau Runge! Muss ich ja zugeben! Aber bei mir ist es wie bei Egon - die Arbeit ist mein Leben! Was soll ich denn jetzt machen, wo ich nicht mehr gebraucht werde!?“
„Und das alles noch vor dem Fest“, empörte sich Jutta, „die kennen auch keinen Anstand mehr!“
„ Was für ein Fest?“, fragte Hanif hellhörig mit leuchtenden Augen.
„Das Weihnachtsfest! An dem Tag ist unser HERR Jesus geboren!“
„Ach so...!“, ließ Hanif enttäuscht vernehmen.
„Harald, man muss seinen Lebensunterhalt verdienen“, versuchte es Jojo, „das ist gar keine Frage! Aber man sollte die Arbeit nicht zu seinem Leben machen! Diese Maschine, dein Kopierer, ist im Laufe der Jahre ein Teil von dir geworden. Und du hast die Bedeutung des Kopierers auf dich selbst übertragen. So ähnlich denken auch reiche oder mächtige Leute. Sie meinen, ihr Geld und ihr Einfluss seien ein fester Bestandteil ihrer Person. Aber man darf Geld, Ehre und Bedeutung nicht zu wichtig nehmen. All das kann man rasch wieder verlieren, und dann kann man sich wertlos und minderwertig fühlen!“
„Du hast gut reden, Jojo! Du und Hanif, Ihr habt ja NIE gearbeitet! Aber für unsereinen geht es noch um Werte wie Pflicht und Verantwortung... das ist mein Lebensinhalt, einfach alles!“
„Harald, jedes Kind begreift, dass es nicht Lebenssinn sein kann, 8 Stunden am Tag in eine Fabrik zu gehen und das 40 Jahre lang, ohne zu überlegen, was das Ganze soll! Das ist ein Leben wie eine Ameise, die vielleicht nicht einmal in ihrem kurzen Leben mitbekommen hat, dass sie überhaupt existiert. Du wirst ja mit Marlies keine Not leiden! Also, suchst du dir jetzt einen anderen Lebenssinn!“
„Damit kann ich nichts anfangen, Jojo! Ich bin fix und fertig! Wie jemand, dem man den Boden unter den Füßen weggezogen hat!“
„Ich verstehe, …nun bist du enttäuscht. Aber wenn du ent-täuscht bist, dann bedeutet es, dass du vorher ständig ge-täuscht warst. Jetzt nimmst du dich das erste Mal richtig wahr! Es gibt nur ein Heilmittel für alle menschlichen Probleme: …das Problem selbst an seiner Wurzel zu verstehen. Du musst dich einmal fragen, weshalb du von dieser bestimmten Arbeit so abhängig bist. Schau einmal genauer hin und
Weitere Kostenlose Bücher