Die Lanze des Herrn
das, was ihm bevorstand, verfinsterte sich sein Gesicht. Wegen seiner kantigen Gesichtszüge und seinem leichten Schielen machten sich der Centurio Abenadar und seine Hauptleute, aber auch die einfachen Soldaten häufig über ihn lustig. Longinus stammte aus Kappadozien und war oft versetzt worden, bis er schließlich in Jerusalem gelandet war. Zur Tempelgarde zu gehören, war sicher nicht der schlechteste Posten, denn der Tempel war ein sehr prächtiges Bauwerk. Nichts war schöner als der violette Morgendunst über den Bergen von Moab, der den Lauf der Sonne begleitete, bis sie zärtlich die Marmorzinnen des Heiligtums berührte. Jedenfalls bei schönem Wetter. Heute, an diesem finsteren Tag, war es eine ganz andere Sache. Longinus war gerade fünfundzwanzig, aber er hatte bereits viel Gewalt und Unglück erlebt. Er wusste auch, dass die politische Lage in Jerusalem besonders verwickelt war. In diesem unruhigen Landstrich, wo die Prophezeiungen nicht abrissen und wo man tagtäglich auf den Messias wartete, war es keine einfache Aufgabe, Gesetz und Ordnung den erforderlichen Respekt zu verschaffen.
Von diesem Jesus aus Nazareth hatte Longinus schon gehört, bevor er heute einen Teil seiner Qualen miterlebt hatte. Es gab Leute, die wirklich glaubten, er sei der Sohn eines Gottes. Es hieß, er lege keinerlei Wert auf Reichtum und Ehre. Sogar die Händler im Tempel und die Priester im Hohen Rat habe er zurechtgewiesen. In den Bergen hatte er große Volksmassen um sich geschart, die seinen Predigten lauschen wollten. Auch Wunder hatte er angeblich vollbracht, Wasser in Wein verwandelt, Brotlaibe vermehrt, Blinde sehend gemacht und Lahme zum Gehen gebracht. Ob das wohl alles stimmte? Longinus wusste es nicht. Vielleicht war dieser Mann nur ein Schwindler, ein gefährlicher Revolutionär oder einfach ein Scharlatan, wie seine Feinde behaupteten. Dem Legionär kam es allerdings so vor, als sei er anders als die anderen Menschen. Auf dem Weg zur Kreuzigung hatte er ihn kein einziges Mal klagen oder protestieren hören. Er hatte seine Strafe auf sich genommen, ohne Schwäche zu zeigen – das Kreuz, die Dornenkrone, den Purpurmantel, die Steine, die man nach ihm geworfen hatte, und die Hohnlieder. Vielleicht war es dieses rätselhafte Verhalten, das Longinus am meisten beeindruckt hatte.
Unleugbar hatte es ihn, den sonst so unerbittlichen Legionär, seltsam berührt, als er Zeuge wurde, wie der charismatische Mann aus Nazareth sich am Kreuz vor Qualen wand und zugleich einem Gott dankte, den er »mein Vater« nannte. Empfand er… Mitleid für ihn? Jedenfalls hatte Longinus in dem Glauben, mit dem der angebliche Messias aller Welt trotzte, ein Feuer gespürt, das ihn beflügelte. Aber nicht den Soldaten in ihm. Nein, er hatte vielmehr das Gefühl, eine Form von Größe erlebt zu haben, die er bisher nicht gekannt hatte. Mitten in der schreienden Menge hatte er Scham empfunden. Scham darüber, dass er an dieser ziemlich überstürzten Hinrichtung beteiligt war. Aber er empfand auch Scham darüber, dass er sich schämte. Denn er, Longinus, stand im Dienste Roms. Als der Gepeinigte unter der Last seines Kreuzes hinstürzte, wäre er ihm beinahe zu Hilfe geeilt. Er hätte ihm gern zu trinken gegeben, als er darum bat. Ganz gleich, was Rom oder der Tempel von diesem Menschen hielten, er hatte Achtung verdient. Longinus konnte sein tiefes Unbehagen nicht verleugnen, selbst wenn es im Widerspruch zu seinem sonstigen Verhalten stand.
Als sie den Hügel erreicht hatten, traten Jesu Begleiter zurück. Einige römische Soldaten lehnten an einem Erdwall, ihre Lanzen neben sich aufgepflanzt, und unterhielten sich mit ihren Kameraden, die weiter unten standen. Die heiligen Frauen baten Johannes, bei den Soldaten zu erwirken, dass die beiden Räuber zuerst an die Reihe kamen. Der Weg auf den Hügel war so schmal, dass man nur schwer zu Pferde hinaufkam. Longinus und die Soldaten stiegen ab. Die Henker nahmen die Leitern, um zu den Räubern hinaufzusteigen.
Als Longinus hörte, wie ihre Knochen brachen, überfiel ihn jäh Übelkeit. Er war zwar römischer Soldat, und Kreuzigungen waren in Jerusalem an der Tagesordnung. Doch Tag für Tag die Leichen von Verbrechern in Gruben zu werfen, in denen schon die verwesenden Leichname vom Vortag lagen, war eine äußerst widerliche Aufgabe. Immer wenn Longinus damit betraut war, rief er sein Pflichtgefühl und die Überzeugung zu Hilfe, dass die römischen Behörden gerecht waren. Nur so konnte
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