Die Lanze des Herrn
ihren Bann gezogen hatten, Zeugnis abzulegen. Vielleicht sah er darin eine Art Exorzismus. Mit glühendem Blick diktierte er seine Geschichte einem Schreiber, der sie in griechischer Sprache auf Pergamentrollen festhielt.
Fünf Tage und sechs Nächte brauchte er dafür. Longinus hatte noch nie etwas aufgeschrieben und gab sich seiner Beichte mit so großem Eifer und einer solchen Ekstase hin, dass er seinen Kopf in Flammen wähnte. Immer wieder ließ er sie sich vorlesen. Berauscht, müde, erschöpft, schrie er bis zur Sinnestäuschung, bis er das Feuer des Himmels zu berühren wähnte. Dann fiel er zu Boden. Als er wieder zu sich kam, erfüllte ihn ein lebendiger Frieden, der dem absoluten Glück verwandt war.
Frieden.
Die Pergamentrollen gab er jüdischen Freunden Jesu und vertraute ihnen auch die Weissagungen an, die ihm bei seinem Aufenthalt in der Wüste zuteil geworden waren. Auf den Pergamenten war der Ort vermerkt, an dem er die Lanze versteckt hatte. Die Rollen wurden im Allerheiligsten aufbewahrt, im Herzen des Tempels von Jerusalem, zu dessen Füßen er so lange Jahre gedient hatte.
Die Lanze blieb in ihrem Versteck, in Leinen gewickelt und von Schilf geschützt. Als Zeichen der Reue und der Unterwerfung… aber nicht nur.
Longinus hatte sie Christus überlassen.
Für den Fall, dass er wiederkommen und sie holen wollte.
Damit sie ihren einzig wahren und würdigen Träger finden würde. Am Jüngsten Tag.
2. Kapitel
Vatikan, Petersdom und Papstpalast, 2006 Heiligtum von Megiddo, 2006 Via Veneto, 2006
»Wurde das Grab des heiligen Petrus tatsächlich gefunden?… Die Antwort lautet ja.«
(Radioansprache Papst Pius’ XII. vom 23. Dezember 1950)
Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne zeichneten sich als Streifen auf dem gemusterten Marmorfußboden des Petersdoms ab.
Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade… Judith kniete mit gefalteten Händen im Hauptschiff des Domes. Sie trug ihre »Dienstkleidung«, wie sie es nannte, eine weiße Bluse, einen schwarzen Rock, der das Knie bedeckte, eine gedeckte Strumpfhose, Ballerinas und um den Hals ein silbernes Kruzifix. Verführerisch war das nicht gerade, aber wenn sie sich nicht auf dem Gelände des Vatikans aufhielt, zog sie sich an, wie es ihr gefiel. Auch das Makeup, das sie sich hier erlaubte, war sehr diskret. Der Herr ist mit dir… Judith betrachtete lächelnd das Kuppelgewölbe. Zu dieser frühen Stunde war die Kirche noch nicht für Besucher geöffnet. Sich zu dieser Zeit hier aufhalten zu dürfen, gehörte zu den vielen Privilegien, die ihre Tätigkeit beim Heiligen Stuhl, die sie seit sechs Jahren ausübte, mit sich brachte. Sie liebte es, hier allein zu sein, am frühen Morgen, in der Stille des großartigen Bauwerks. Angeblich fasste es sechzigtausend Menschen. Und es stimmte, eigentlich eignete sich das Gebäude eher für den prächtigen Pomp religiöser Zeremonien als für das stille Gebet… Du bist gebenedeit unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Allein in dem Säulenwald genoss Judith die majestätische Ausstrahlung des Doms. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder…
In der benachbarten Seitenkapelle schien die Pietà des Michelangelo leise zu erbeben. Das Haupt leicht geneigt und mit einem Schleier bedeckt, hält die Gottesmutter ihren von seinen Qualen erlösten Sohn. Seit ein psychisch Gestörter die Skulptur hatte zerstören wollen, war Marias Nase beschädigt, und nun war das Kunstwerk hinter Panzerglas geschützt. Jetzt und in der Stunde unseres Todes… Über dem Hochaltar schwebte der riesige Baldachin, dessen gedrechselte Säulen auch in den abgelegensten Kirchen der katholischen Christenheit nachgeahmt worden waren. In der Apsis leuchtete der Stuhl des heiligen Petrus unter der Sonne des Heiligen Geistes.
Judith bekreuzigte sich.
Amen.
Als sie sich aufrichtete, stiegen tausend Erinnerungen in ihr hoch.
Vor sieben Jahren hatte sie vor dieser Basilika an der Papstweihe des früheren Kardinals Spinelli di Rosace teilgenommen. Lächelnd gab sie sich ihren Erinnerungen hin. Vor ihrem geistigen Auge erstanden wieder die vielen hunderttausend Menschen, die von den halbrunden Säulengängen bis zum Ende der Via della Conciliazione auf den weißen Rauch über der Kuppel warteten, der die Entscheidung der hundertzwanzig Kardinäle verkündete, die sich zum Konklave versammelt hatten. Eine Zweidrittelmehrheit sowie eine weitere Stimme. Sie sah wieder die wehenden
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