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Die Lanze des Herrn

Die Lanze des Herrn

Titel: Die Lanze des Herrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaud Delalande
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Kameraden. Überrascht spürte er, wie sie ihm ermutigend auf die Schulter klopften. Er gab vor, sich zu freuen. Die Zufriedenheit der Pflichterfüllung… Nicht weit von ihm, unter einem Felsvorsprung vom Wind geschützt, beobachteten ihn schweigend die trauernden Frauen.
    Longinus zitterte immer stärker.
    Träumte er? Jesus sah auf einmal so friedlich aus. Seine Züge waren seltsam entspannt.
    Bei allen Göttern… und wenn… und wenn… es nun wirklich Er war?
    Longinus trat ein paar Schritte zurück. Er spürte, wie er körperlich und seelisch ins Wanken geriet. Seine Beine trugen ihn nicht mehr, sein Verstand versagte.
    »Was ist denn mit dir los?«, brummte sein Hauptmann, noch immer lachend. »Du siehst ja aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!«
    Er war nicht in der Lage, ihm eine Antwort zu geben.
    Unter dem Felsvorsprung stand Jesu Mutter und blickte zu ihm herüber. Sie sahen sich an. Longinus fühlte, wie er in diesem leidvollen Blick versank, in dessen Pupillen ein Sternenhimmel zu leuchten schien. Er hatte sogar kurz das Gefühl, als gehöre er sich selbst nicht mehr, als sei sein ganzes Wesen plötzlich von diesem Blick aufgesogen worden. Er wandte den Blick ab. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt.
    Bald stand nur noch ein einzelnes Kreuz da, von wenigen Soldaten bewacht, zu denen auch Longinus gehörte. Die Diener Josephs von Arimathia, die das Grab vorbereiten sollten, kamen auf den Hügel gestiegen, um Maria und ihren Freunden zu sagen, dass Pontius Pilatus ihrem Herrn den Körper des Gekreuzigten überlassen und ihm die Genehmigung erteilt habe, ihn in einem neuen Grab zu bestatten. Johannes und die heiligen Frauen begaben sich in die Stadt, damit sich Maria auf dem Berg Zion ausruhen konnte. Longinus erhielt den Befehl, vor Ort zu bleiben, bis der Leichnam abgeholt worden war. Er zog sich zurück und setzte sich auf einen Stein unter dem Felsvorsprung, wo sich noch kurz zuvor Maria aufgehalten hatte. Nervös spielte er mit einem Lederriemen, den er ständig zusammen- und wieder auseinanderrollte. Er löste den Riemen seines Helms, der gegen sein Kinn drückte, nahm den Helm ab, legte ihn auf einen Felsen und barg den Kopf in den Händen.
    Mit leicht geöffnetem Mund blickte er ins Leere.
    Hör mal, Soldat! Du wirst doch nicht auch noch anfangen, an diese Märchen zu glauben? Er schüttelte den Kopf, ohne zu verstehen. Widersprüchliche Gedanken gingen ihm durch den Sinn. Er sah sich selbst wie einen Dummkopf dort im Staub sitzen, in seinen Umhang gehüllt, und fürchtete plötzlich, sich selbst fremd zu werden. Dabei war es so, als wäre alles für diesen Augenblick vorbereitet gewesen. Er führte einen inneren Kampf, von Gefühlen heimgesucht, die er nicht in den Griff bekam, und versuchte vergebens das Zittern zu unterdrücken, das seinen ganzen Körper erfasst hatte. Der Kopf tat ihm weh. Haben wir wirklich… einen Messias getötet? War das der Messias?, fragte er sich. Bald wies er den Gedanken von sich und lachte unwillkürlich ungläubig auf, bald packte ihn das blanke Entsetzen bei dem Gedanken an das, was geschehen war. Hatte er die Götter beleidigt? Die Götter… den Gott?
    Was geschah nur mit ihm?
    Er rang um Fassung.
    Bruchstücke von Geschichten, die man ihm erzählt hatte, kamen ihm wieder in den Sinn. Über die Erlösung der Menschheit… die Predigten. Ich bin das Alpha und das Omega… die Letzten werden die Ersten sein… von dem geheimnisvollen himmlischen Reich, das die Gerechten und Gepeinigten für alle Zeit aufnehmen würde… Longinus hatte Mühe zu schlucken. Diese Augen, als er mit der Lanze zustieß! Bei dem Gedanken an diesen Moment, der in einen bösen Traum zu gehören schien, überfiel ihn noch größere Angst. Wird es eines Tages heißen, dass ich derjenige war, der dem Messias den Gnadenstoß gab? Dass ich am Tag seiner größten Qualen als Letzter die Hand gegen ihn erhoben habe? Er sträubte sich mit aller Macht gegen den unerträglichen Gedanken.
    Seit er zur Tempelwache gehörte, hatte er dem Imperium treu gedient. Er hatte auf Männer und Frauen eingedroschen, sie geschlagen und geohrfeigt, damit die Ordnung und die Pax Romana respektiert wurden. Longinus war nicht besonders stark, aber groß gewachsen und geschickt im Umgang mit dem Speer, obwohl er keine guten Augen hatte. Es war für ihn aber immer Ehrensache gewesen, nicht hinter den anderen zurückzustehen. Manchmal hatte er seiner Aggressivität freien Lauf gelassen, was ihm den Ruf eines brutalen

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