Die Lanze des Herrn
die Stirn, wir leben nun in zwei Welten, zwei ganz verschiedenen Welten. Das erfüllte sie mit aufrichtigem Bedauern. Sie hatte es allerdings schon immer schwierig gefunden, mit ihren Eltern zu reden. Früher konnten sie nicht begreifen, warum sie sich zu ihrem Weg entschlossen hatte. Sie waren von einfacher Herkunft und nicht sonderlich religiös. Mittlerweile hatten die Spannungen zwischen ihnen nachgelassen. Sie waren tief beeindruckt, dass ihre Tochter jetzt zur famiglia pontifica gehörte, zur engeren Umgebung des Papstes, und empfingen sie wie den verlorenen Sohn, wenn sie nach Hause kam.
Noch gestern hatte sie mit ihrer Mutter telefoniert. Judith hatte ihr erklären wollen, was genau sie gerade machte, und wie derzeit ihr beruflicher Alltag aussah. Ihre Mutter hatte gesagt: »Ach ja, ach wirklich?«, und so getan, als würde sie ihre Tochter verstehen, aber offensichtlich war das alles zu kompliziert für sie. Und so bekam Judith meistens von ihrer Familie zu hören, sie sei die »Katholikin vom Dienst«. Von ihren Zweifeln und Ängsten hatten ihre Eltern nicht die geringste Ahnung.
Judiths Gesicht verdüsterte sich, als sie daran dachte, warum sie heute Morgen in den Vatikan gekommen war.
Gerade als sie am gestrigen Abend den Palast verlassen wollte, hatte sie von Kardinal Lorenzo, der mit seinem Kämmerer konferierte, eine in großer Eile geschriebene Nachricht erhalten.
Der Briefbogen trug das Wappen des Vatikans.
Liebe Judith,
wir müssen uns dringend morgen früh um acht Uhr in meinem Büro sehen. Es geht um die Ausgrabungen in Megiddo. Die Presse ist noch nicht informiert – jedenfalls bisher noch nicht. Außer uns sind nur der israelische Geheimdienst und die palästinensische Regierung auf dem Laufenden. Die Lage ist gespannt. Ich habe sofort den Heiligen Vater persönlich unterrichtet. Angesichts der Tatsache, dass Sie einige der Pergamente von Akko übersetzt haben, wünscht er, dass ich Sie damit beauftrage, der Sache nachzugehen. Ich weiß, welches Vertrauen er in Sie setzt, und Sie wissen, dass ich es teile. Aber ich zögere, da diese Mission nicht ohne Risiko ist. Es geht dabei um zentrale Interessen der Kirche. Morgen mehr dazu.
D.L.
Judith runzelte die Stirn.
Es geht um die Ausgrabungen in Megiddo… Vor einiger Zeit hatte der Vatikan Archäologen damit beauftragt, den heiligen Bezirk von Megiddo in Israel zu erforschen. Geleitet wurde das Team vom Direktor der archäologischen Studien und Forschungen, Enrico Josi. Megiddo war nach wie vor ein sensibles Gebiet des Heiligen Landes. Hundert im Gefängnis der Stadt einsitzende palästinensische Gefangene waren vor einiger Zeit in Hungerstreik getreten, und seit der ersten Intifada protestierten schwarz gekleidete Frauen, die sogenannten »Women in Black«, gegen die Besatzungspolitik Israels. Durch ein muslimisches Selbstmordattentat waren achtzehn Israelis getötet worden, und die Nachbarstadt Djenin war von Panzern und Hubschraubern aus beschossen worden. Der strategische Knotenpunkt Megiddo lag ganz in der Nähe einer israelischen Militärbasis.
Es hatte Judith und den Vatikan gewaltige Anstrengungen gekostet, die Genehmigung für die Grabungen zu erhalten. Erst nachdem sie argumentiert hatten, dass es sich um ein wissenschaftliches Projekt unter Aufsicht handele, gaben die israelischen Behörden endlich grünes Licht, und auch die palästinensische Verwaltung wurde informiert. Den Ausschlag hatte die bei biblischen Rätseln stets große Neugier gegeben sowie die Bereitschaft des Vatikans, zwei israelische Gelehrte in das Forschungsteam aufzunehmen. Seit sich die Beziehungen zwischen der Kirche und dem Staat Israel normalisiert hatten, stand eine Zusammenarbeit in dieser Form unter einem günstigeren Stern als in der Vergangenheit.
Als Judith die Nachricht des Kardinals noch einmal durchlas, erfasste sie eine tiefe Unruhe. Was konnte in Megiddo passiert sein?
Ihre Tasche lag ganz in der Nähe auf einer Bank. Sie setzte sich hin und versuchte sich zu beruhigen, während sie die Schriftstücke hervorholte, mit denen alles begonnen hatte. Allein unter dem hohen Deckengewölbe in der vollkommenen Stille des Doms warf sie einen letzten Blick hinauf zu den Fresken. Dann vertiefte sie sich mit höchster Konzentration in ihre Akten.
Begonnen hatte es nicht in Israel, sondern genau hier, im Herzen des Petersdoms, als Professor Ludwig Kaas tief unter dieser einzigartigen Basilika von 1933 bis 1950 seine Grabungen durchführte.
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