Die Lanze des Herrn
Lieber Professor Kaas. Ohne Sie hätten wir das Testament des Longinus niemals gefunden, dachte Judith.
Nur wenige Menschen wussten, was sich unter den Marmorfliesen verbarg, in der Tiefe der antiken Totenstadt, auf der die Fundamente der prächtigen Basilika St. Peter ruhten…
Hier im Vatikan hatte Judith begonnen, nach der Schicksalslanze zu suchen. Ein 1933 aufgenommenes und mittlerweile leicht vergilbtes Foto des Archäologen Ludwig Kaas klebte auf dem ersten Blatt ihrer Akte. Judith betrachtete es und versuchte, hinter das Geheimnis dieser erstaunlichen Persönlichkeit zu kommen, mit der sie sich auf unerklärliche Weise verbunden fühlte. Professor Kaas stammte aus Trier und hatte sich lange mit der Bibelexegese beschäftigt. Er konnte nicht davon ablassen, die Bibel den Verschüttungen und Ablagerungen der Zeit zu entreißen. Ein fürwahr edler Kampf für einen Deutschen in der damaligen Zeit, als Hitler Reichskanzler wurde und sich der Himmel über Europa durch die ersten Wolken einer neuen Götterdämmerung verdüsterte… Ludwigs wissenschaftlicher Ruf war bis zu Papst Pius XI. gedrungen, sodass er ihn persönlich beauftragte, die untersten Gewölbe und die Fundamente des Petersdoms zu erforschen. Es ging auch um die Frage, ob dort tatsächlich die Reliquien St. Peters lagen oder nicht. Kaas begann also mit seinen Ausgrabungen unter der Schirmherrschaft der jahrhundertealten Erben des Apostels. »Ich sage dir, du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.« Der berühmte Satz, den Jesus an den kleinen Fischer aus Kapernaum am See Genezareth richtete, klang Judith in den Ohren. Nachdem Petrus das Oberhaupt der ersten christlichen Gemeinde Jerusalems und Judäas geworden war, hatte er seine Missionsreisen bis nach Kleinasien ausgeweitet und war schließlich in Rom den Märtyrertod gestorben. Seine sterblichen Überreste waren hier bestattet worden, sie lagen unter dem Hochaltar der Basilika.
Das Grab des heiligen Petrus. Die erste Kirche des Vatikans. Bei Professor Kaas’ Ausgrabungen gelang es, die antike Nekropole freizulegen. Judith konnte gut nachempfinden, was der Archäologe bei seiner Arbeit empfunden hatte. Auf der Grabungsstätte musste es ausgesehen haben wie im Stall des Augias. Die Gräber lagen in mehreren Schichten übereinander. Es gab Stein- und Marmorsarkophage, Steinplatten aller Art und Größe, mit Inschriften in verschiedenen Sprachen bedeckt. Tausende zerbrochene Votivtafeln mit chaotischer Schrift. Seltsame Stelen mit zerbröselnden Kanten zerschnitten den finsteren Steinwald unter dem Gewölbe ohne Sterne, das wie ein todbringender Ozean vergessen in der schwarzen Tiefe der Steine ruhte. Die Jahrhunderte hatten ihren Beitrag zum Verfall geleistet, und so war aus der Deponie der Geschichte ein fragwürdiges Museum geworden. Zu den antiken heidnischen Gräbern hatten sich die von christlichen gekrönten Häuptern gesellt, Könige, Prinzen und Kaiser, daneben an die hundertfünfzig Päpste sowie viele Kardinäle und Höflinge. Über diesen unbekannten Unterbau schritten die Besucher des Petersdoms. Sie bewegten sich auf den Spuren eines Volkes der Unterwelt, das sich noch hinter uralten Schatten und vergessenen Bittschriften verschanzte, im Herzen eines Schweigens, das, wenn es auch nicht von Gold war, so doch an Elfenbein und alten Marmor gemahnte. Es war das Schweigen der großen Mythen und Mysterien, der Schemen und Schattenbilder, von denen manche noch aus der Zeit vor Christus stammten. In dieses düstere Mausoleum hatte Kaas das Licht geholt, und man glaubte Zeuge zu sein, wie plötzlich auferstandene Schatten im Fackelschein von Grab zu Grab glitten und sich in ersticktem Flüstern unterhielten. Das Gefühl war Judith wohlvertraut. Als Pius XI. starb, hatte sein Nachfolger Ludwig Kaas beauftragt, im Herzen der antiken Totenstadt eine angemessene Stätte für den Sarg seiner Heiligkeit zu finden. Es wäre beinahe zu einer Katastrophe gekommen, als Kaas eine schwere Marmorplatte an die von ihm ausgewählte Stelle legen ließ. Mit lautem Getöse stürzte eine ganze Wand ein. Dahinter entdeckte man ein Gewölbe, das wie das Fundament einer äußerst alten Kirche aussah. Und darin wiederum fand man ein Grab.
Professor Kaas zweifelte nicht daran, dass es sich um ein Grab aus der frühchristlichen Zeit handelte.
Sogleich begannen die Archäologen mit der Freilegung. In sieben Meter Tiefe fand der
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