Die Larve
Schou plass hinter sich gelassen und näherte sich gerade dem Restaurant Blå, als sie die Schritte hörte. Das kurze, harte Schlagen von Schuhsohlen auf Asphalt. Ein großer, junger Mann kam auf sie zugelaufen. Glitt durch abwechselnd hell erleuchtete und dunkle Abschnitte auf dem Weg vor ihr. Als er an ihr vorbeiging, sah sie kurz sein Gesicht, dann hörte sie den keuchenden Atem rasch hinter sich verschwinden. Auch er hatte ein ihr bekanntes Gesicht, war einer von denen, die sie im Fyrlyset gesehen hatte. Aber es waren mittlerweile so viele, und manchmal glaubte sie, Menschen gesehen zu haben, von denen ihre Kollegen am nächsten Tag behaupteten, sie seien schon seit Monaten oder gar Jahren tot. Aber dieses Gesicht ließ sie aus irgendeinem Grund wieder an Harry denken. Sie sprach nie mit jemandem über ihn, erst recht nicht mit Rikard, das war klar, aber dieser Harry hatte sich einen festen Platz in ihrem Herzen erobert, einen kleinen Raum, in dem sie ihn manchmal besuchte. Konnte das Oleg gewesen sein? Hatte sie deshalb an Harry denken müssen? Sie drehte sich um. Sah den Rücken des laufenden Jungen. Als säße ihm der Teufel im Nacken, oder als liefe er vor irgendetwas davon. Aber sie sah niemanden, der ihm folgte. Dann wurde er kleiner und verschwand schließlich ganz im Dunkel.
Irene schaute auf die Uhr. Fünf nach elf. Sie lehnte sich im Sitz zurück und blickte auf den Monitor über dem Boarding-Schalter. In ein paar Minuten würde das Boarding beginnen. Papa hatte ihnen per SMS mitgeteilt, dass er sie in Frankfurt vom Flughafen abholen wollte. Sie schwitzte, und ihr Körper tat weh. Es würde nicht leicht werden. Aber sie würde es schaffen.
Stein drückte ihre Hand.
»Wie geht’s dir, Kleines?«
Irene lächelte. Erwiderte den Händedruck.
Sie würde es schaffen.
»Du, kennen wir die da drüben nicht?«, flüsterte Irene.
»Wen?«
»Die Dunkelhaarige, die da allein sitzt?«
Sie hatte schon dort gesessen, als sie gekommen waren. Auf einem der Sitze des gegenüberliegenden Gates. Sie las ein Lonely-Planet-Buch über Thailand. Sie war hübsch, eine Art von Schönheit, auf die das Alter keinerlei Einfluss hatte. Und sie hatte Ausstrahlung, schien irgendwie froh zu sein, als lachte sie innerlich.
»Ich nicht. Wer ist das?«
»Ich weiß nicht. Sie erinnert mich an irgendjemanden.«
»An wen?«
»Keine Ahnung.«
Stein lachte sein Sicherheit ausstrahlendes, ruhiges Großer-Bruder-Lachen und drückte wieder ihre Hand.
Ein langgezogenes Pling ertönte, und eine metallische Stimme verkündete, dass der Flug nach Frankfurt bereit sei und das Boarding beginnen könne. Die Menschen standen auf und strömten zum Schalter. Irene hielt Stein zurück, der sich ebenfalls erheben wollte.
»Was ist, Kleines?«
»Lass uns warten, bis die Schlange durch ist.«
»Aber das …«
»Ich schaffe es nicht, so dicht inmitten all der Leute … auf der Gangway zu stehen.«
»Natürlich. Wie dumm von mir. Wie geht es dir?«
»Noch immer gut.«
»Gut.«
»Sie sieht einsam aus.«
»Einsam?«, sagte Stein und sah zu der Frau hinüber. »Nein, das finde ich gar nicht. Sie sieht glücklich aus.«
»Ja, aber einsam.«
»Glücklich und einsam?«
Irene lachte. »Nein, ich irre mich sicher. Das ist wohl nur der, an den sie mich erinnert.«
»Irene?«
»Ja?«
»Du denkst doch an unsere Vereinbarung? Nur gute Gedanken.«
»Ja, ja, und wir zwei sind ja nicht einsam.«
»Nein, wir sind füreinander da. Für immer, nicht wahr?«
»Für immer.«
Irene schob ihre Hand unter den Arm ihres Bruders und legte ihren Kopf an seine Schulter. Dachte an den Polizisten, der sie gefunden hatte. Er hatte sich ihr als Harry vorgestellt. Sie hatte gleich an den Harry denken müssen, über den Oleg immer gesprochen hatte, der war ja auch Polizist. Aber sie hatte sich Olegs Harry immer größer, jünger und sicher nicht so hässlich vorgestellt wie den Mann, der sie befreit hatte. Aber dieser Mann war auch bei Stein gewesen, und inzwischen wusste sie, dass er wirklich Harry Hole gewesen war. Sie würde sich bis an ihr Lebensende an ihn erinnern. An sein vernarbtes Gesicht, die frische Wunde am Kinn und die dicke Bandage um den Hals. Und an seine Stimme. Oleg hatte gar nicht erzählt, dass er eine derart angenehme Stimme hatte. Und plötzlich spürte sie, wie sicher sie sich war. Sie hatte keine Ahnung, woher die Zuversicht rührte, die sie mit einem Mal überkam, aber sie war einfach da.
Sie würde es schaffen.
Wenn sie jetzt Oslo
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