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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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nickte wieder.
    »Aber auch deine Platten. Frank Zappa. Miles Davis. Supergrass. Neil Young. Supersilent.«
    Die Namen kamen so schnell und natürlich, dass Harry sie in Verdacht hatte, selbst mal heimlich ein Ohr riskiert zu haben.
    »Und dann habe ich eines Tages beim Staubsaugen in seinem Zimmer zwei Pillen mit Smileys gefunden.«
    »Ecstasy?«
    Sie nickte. »Zwei Monate später hatte ich einen neuen Job bei der Staatsanwaltschaft und bin hierher zurückgezogen.«
    »Zurück ins sichere, unschuldige Oslo.«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Er brauchte eine Luftveränderung. Ein anderes Milieu, einen Neustart. Und anfangs funktionierte das auch. Er ist ja nicht gerade der Typ, der viele Freunde hat, aber er traf sich wieder mit einigen der alten und kam auch in der Schule gut zurecht, bis …« Ihre Stimme wurde plötzlich brüchig, und sie kam ins Stocken.
    Harry wartete. Sie trank einen Schluck Kaffee. Sammelte sich.
    »Plötzlich konnte er mehrere Tage am Stück weg sein. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, er machte, was er wollte. Ich rief die Polizei an, Psychologen, Soziologen. Er war noch nicht volljährig, trotzdem konnte niemand etwas tun, solange man ihm nicht nachweisen konnte, dass er Drogen nahm oder gegen Gesetze verstieß. Ich fühlte mich so hilflos. Ich! Die ich immer gedacht hatte, dass es eigentlich an den Eltern liegt, wenn etwas schiefgeht. Früher hatte ich doch jedes Mal irgendwelche Lösungen parat, wenn ich von anderen Kindern gehört habe, die auf die schiefe Bahn geraten sind. Nicht apathisch werden, nichts verdrängen, handeln!«
    Harry sah auf ihre Hand. Sie lag neben seiner auf dem Kaffeetisch. Ihre schlanken, hübschen Finger. Feine Adern zogen sich über den blassen Handrücken, der so früh im Herbst normalerweise noch von der Sonne gebräunt war. Er gab nicht dem Impuls nach, seine Hand auf ihre zu legen. Etwas stand im Weg. Oleg stand im Weg. Sie seufzte.
    »Dann bin ich runter ins Zentrum und habe ihn gesucht. Abend für Abend. Bis ich ihn gefunden habe. Er stand an der Tollbugata an einer Ecke und war froh, mich zu sehen. Sagte, er sei glücklich. Dass er einen Job habe und sich mit ein paar Freunden eine Wohnung teile. Er bräuchte die Freiheit und ich sollte ihm keine Fragen stellen. Er bezeichnete das als einen ›Ausflug‹, als seine Version von dem Jahr, das die anderen Jungs vom Holmenkollåsen für ihre Weltumsegelung nutzten. Er wollte lieber das Osloer Zentrum umsegeln.«
    »Was hatte er an?«
    »Was meinst du?«
    »Im Moment noch gar nichts.«
    »Er hat gesagt, dass er bald wieder zu Hause sein würde. Um die Schule abzuschließen. Wir haben dann vereinbart, dass er am Sonntag kommt und wir zusammen abendessen.«
    »Und, ist er gekommen?«
    »Ja, und als er wieder weg war, habe ich bemerkt, dass er in meinem Schlafzimmer gewesen sein und mein Schmuckkästchen geklaut haben muss.« Sie holte lang und zitternd Luft. »Der Ring, den du mir auf diesem kleinen Markt gekauft hast, lag da drin.«
    »Was für ein kleiner Markt?«
    »Erinnerst du dich nicht mehr?«
    Harrys Hirn spulte im Schnelldurchlauf zurück. Neben den großen, glänzend kahlen Bereichen, die der Alkohol einfach weggefressen hatte, gab es einige schwarze Felder der Bewusstlosigkeit und ein paar weiße, die er absichtlich verdrängt hatte. Dazwischen schimmerten aber auch Abschnitte mit Farben und Konturen hindurch, darunter der Tag auf dem Flohmarkt irgendwo im Westen der Stadt. War Oleg dabei? Ja, vermutlich schon. Selbstverständlich. Das Bild. Der Selbstauslöser. Das Herbstlaub. Oder war das ein anderer Tag gewesen? Sie waren von Stand zu Stand geschlendert. Altes Spielzeug, Geschirr, verrostete Zigarrenetuis, Schallplatten mit und ohne Cover und Feuerzeuge. Und ein goldener Ring, der zwischen all dem Kram so schrecklich einsam ausgesehen hatte, dass Harry ihn gekauft und ihr an den Finger gesteckt hatte. Um ihm ein neues Zuhause zu geben, wie er gesagt hatte. In etwa. Irgendwelche verkleidete Floskeln, die sie als den schüchternen Versuch einer Liebeserklärung auffassen musste. Und vielleicht war es genau das gewesen, auf jeden Fall hatten sie beide gelacht. Über die Handlung als solche, den Ring, darüber, dass sie beide Bescheid wussten. Und darüber, dass dieser Augenblick perfekt war. Denn all das, was sie wollten und doch nicht wollten, lag in diesem alten, billigen Ring. Das Versprechen, einander so inniglich und so lang wie eben möglich zu lieben, und zu gehen, sollte diese Liebe doch

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