Die Larve
euch.«
»Die musst du aber erst bezahlen.«
»Komm schon, in zwei Stunden hast du die Kohle.«
Tutu sah mich an. Nickte in Richtung Irene, die an der Treppe des Bahnhofs stand und wartete. »Und w-w-was ist mit ihr?«
»Sie hilft mir.«
»Mädchen sind gute D-d-dealer. Nimmt sie selbst?«
»Noch nicht«, sagte ich.
»Du D-d-dieb«, sagte Tutu und ließ sein zahnloses Grinsen sehen.
Ich zählte das Geld. Das letzte. Es war immer das letzte. Das Blut, das aus mir sickert.
Eine Woche später blieb vor dem Elm Street Rock Café ein junger Mann vor Irene und mir stehen.
»He, Irene, das ist Oleg«, sagte ich und sprang von der Mauer. »Oleg, das ist Irene, meine Schwester.«
Als ich ihn umarmte, spürte ich, dass er seinen Kopf aufrecht hielt und über meine Schulter zu Irene blickte, das Herz unter dem Stoff seiner Jeansjacke klopfte schneller.
Kommissar Berntsen hatte die Füße auf den Tisch gelegt. Er presste den Telefonhörer ans Ohr. Er hatte das Präsidium in Lillestrøm, Polizeidistrikt Romerike, angerufen und sich als Roy Lunder vorgestellt, Laborant beim Kriminalamt. Der Kommissar, mit dem er sprach, hatte ihm gerade bestätigt, dass sie die Tüte mit der verdächtigen Substanz – vermutlich Heroin – von den Beamten am Flughafen erhalten hatten. Jetzt sollte sie, wie alle unter Drogenverdacht stehenden, beschlagnahmten Stoffe, im kriminaltechnischen Labor des Kriminalamts in Bryn untersucht werden. Einmal pro Woche machte ein Wagen im ganzen Østland die Runde und sammelte die Asservate bei den verschiedenen Polizeidistrikten ein. Die anderen Distrikte schickten die Waren per Kurier.
»Gut«, sagte Berntsen und spielte mit der gefälschten ID -Karte mit seinem Bild und dem Namen Roy Lunder, Kripos, herum. »Ich muss ohnehin nach Lillestrøm, ich könnte die beschlagnahmte Tüte also mit nach Bryn nehmen. In Anbetracht der großen Menge würden wir sie gerne gleich untersuchen. – Gut, dann sehen wir uns morgen früh.«
Er legte auf und sah aus dem Fenster. Der neue Stadtteil rund um Bjørvika wuchs langsam in den Himmel. Er dachte an all die kleinen Details: die Schrauben und Muttern. Die Konsistenz des Mörtels, die Flexibilität der Fensterscheiben. All das musste zusammenpassen, damit das Ganze funktionierte. Aber das tat es, die ganze Stadt funktionierte, und das erfüllte ihn mit tiefer Zufriedenheit.
Kapitel 9
D ie langen, schlanken Frauenbeine der Kiefer verschwanden in dem Kleid aus Grün, das diffuse Nachmittagsschatten auf den weiten Kiesplatz vor dem Haus warf. Harry stand am Ende der Einfahrt, wischte sich nach der heftigen Steigung den Holmendammen hoch den Schweiß von der Stirn und betrachtete das dunkle Haus. Die schwarzgebeizten, schweren Balken strahlten Solidität und Sicherheit aus, ein Bollwerk gegen Natur und Trolle, das aber trotzdem versagt hatte. Rings um das Haus lagen große, unelegante Villen, die konstant ausgebaut und renoviert wurden. Øystein, in seiner Kontaktliste als Ø verzeichnet, hatte ihm gesagt, die massive Balkenbauweise sei ein Ausdruck der Sehnsucht der vermögenden Bürgerschaft nach der gesunden Natur gewesen, nach dem Einfachen. Harry dachte bei dem Anblick des Hauses aber nur an die krankhafte, perverse Belagerung einer Familie durch einen Serienmörder. Trotzdem hatte sie das Haus behalten.
Harry ging nach oben zur Tür und klingelte.
Von drinnen waren schwere Schritte zu hören. Harry wurde schlagartig klar, dass er sie erst hätte anrufen sollen.
Die Tür ging auf.
Der Mann, der vor ihm stand, hatte einen langen, blonden Pony. Diese Tolle hatte ihm in der Jugend, als sie noch richtig voll gewesen war, sicher Vorteile verschafft, weshalb er sie auch ins Erwachsenenalter hinübergerettet hatte, er konnte ja nicht ausschließen, dass auch die etwas lichtere Variante noch Wirkung zeigte. Der Mann trug ein frisch gebügeltes, hellblaues Hemd, wie er es, wie Harry annahm, auch schon in seiner Jugend getragen hatte.
»Ja?«, sagte der Mann. Offen und freundlich. Seine Augen schienen bislang nichts anderes als Freundlichkeit erlebt zu haben. Ein kleiner Polospieler war an die Brusttasche des Hemdes appliziert worden.
Harry spürte, dass sein Hals trocken wurde. Noch einmal warf er einen Blick auf das Namensschild unter der Klingel.
Rakel Fauke.
Trotzdem stand dieser Mann mit dem hübschen, weichen Gesicht auf eine Weise in der Tür, als wäre dies sein Haus. Harry wusste, dass er mehrere Möglichkeiten für eine angemessene Eröffnung hatte,
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