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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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schwarzen Augenbrauen zusammen, so dass die Falte zum Vorschein kam, die er immer mit dem Zeigefinger zu glätten versucht hatte. »Manchmal ist es besser, einen Juristen zu haben, der sich engagiert, als einen, der so viel Erfahrung hat, dass er das Ergebnis schon im Voraus kennt.«
    »Hm, du meinst, einen, der weiß, dass dieser Fall verloren ist.«
    »Meinst du, ich hätte einen dieser alten, müden Traber nehmen sollen?«
    »Nun, die Besten sind eigentlich ziemlich engagiert.«
    »Harry, das ist ein kleiner, unbedeutender Drogenmord. Die Besten sind mit irgendwelchen prestigeträchtigen Fällen beschäftigt.«
    »Und was hat Oleg seinem engagierten Anwalt über diese Geschichte erzählt?«
    Rakel seufzte. »Dass er sich an nichts erinnert. Darüber hinaus will er rein gar nichts sagen.«
    »Und darauf wollt ihr eure Verteidigung aufbauen?«
    »Hör mal, Hans Christian ist auf seinem Feld ein Spitzenanwalt, er weiß, worauf es ankommt, holt sich Ratschläge bei den Besten und arbeitet wirklich Tag und Nacht.«
    »Dann nutzt du – mit anderen Worten – also sein Helfersyndrom aus?«
    Dieses Mal lachte Rakel nicht. »Ich bin Mutter. Das ist simpel. Ich bin bereit, alles nur Erdenkliche zu tun.«
    Am Anfang des Waldes blieben sie stehen und setzten sich auf zwei breite Fichtenstümpfe. Die Sonne hing wie ein schlapper Nationalfeiertagsballon im Westen am Horizont.
    »Ich weiß ja, warum du gekommen bist«, sagte Rakel. »Aber was genau hast du vor?«
    »Ich will herausfinden, ob es nicht doch berechtigte Zweifel an Olegs Schuld gibt.«
    »Weil?«
    Harry zuckte mit den Schultern. »Weil ich Ermittler bin. Weil wir unseren Ameisenhaufen so organisiert haben. Weil niemand verurteilt werden darf, bevor wir uns nicht wirklich sicher sind.«
    »Und du bist dir nicht sicher?«
    »Nein, ich bin mir nicht sicher.«
    »Und nur deshalb bist du hier?«
    Die Schatten der Fichten krochen über sie. Harry fröstelte in seinem Leinenanzug, sein innerer Thermostat hatte sich allem Anschein nach noch nicht auf 59,9° nördliche Breite eingestellt.
    »Es ist komisch«, sagte er. »Aber von all der Zeit, die wir zusammen waren, kann ich mich eigentlich nur noch an ein paar losgelöste Augenblicke erinnern. Das ist, wie wenn ich ein Bild betrachte und mich dann genau so daran erinnere. So wie wir auf dem Bild waren. Auch wenn ich weiß, dass das gar nicht stimmt.«
    Er sah sie an. Sie hatte das Kinn auf eine Hand gestützt. Die Sonne glitzerte in ihren blinzelnden Augen.
    »Vielleicht machen wir ja gerade deshalb Bilder«, fuhr Harry fort. »Um uns falsche Beweise zu schaffen, mit denen wir dann die fehlerhafte Annahme belegen können, dass wir glücklich sind. Denn der Gedanke daran, nicht einmal in der Vergangenheit glücklich gewesen zu sein, ist unerträglich. Die Erwachsenen befehlen den Kindern, auf den Fotos zu lächeln, sie ziehen sie in ihre Lüge hinein. Wir lächeln, spielen uns die heile Welt vor. Nur Oleg konnte nie lächeln, wenn er das nicht auch wollte. Er konnte nicht lügen, er hat das einfach nicht in sich.« Harry wandte sich wieder der Sonne zu und sah die letzten Strahlen wie gelbe Finger zwischen den Fichten über den Bergrücken streichen. »Ich habe ein Bild von uns dreien an seiner Spindtür im Valle Hovin gefunden. Und weißt du was, Rakel? Auf diesem Foto, da lächelt er.«
    Harry fokussierte die Fichten. Plötzlich schien die Farbe aus ihnen herausgesaugt worden zu sein, so dass ihre Silhouette an eine Reihe aufmarschierter, schwarzer Soldaten erinnerte. Dann spürte er sie kommen, spürte, wie ihre Hand sich unter seinen Arm schob und ihr Kopf sich an seine Schulter lehnte. Er roch den Geruch ihrer Haare und fühlte die Wärme ihrer Haut durch den Stoff seines Anzugs. »Ich brauche kein Bild, um mich daran zu erinnern, wie glücklich wir waren, Harry.«
    »Hm.«
    »Vielleicht hat er ja gelernt zu lügen. Das tun wir alle irgendwann.«
    Harry nickte. Ein Windhauch ließ ihn zittern. Wann hatte er selbst zu lügen gelernt? Damals, als Søs ihn gefragt hatte, ob Mama ihnen aus dem Himmel zusah? Hatte er es so früh gelernt? War das der Grund dafür, weshalb ihm die Lüge, nicht sicher zu sein, was Oleg getan hatte, so leicht über die Lippen ging? Olegs verlorene Unschuld bestand nicht darin, dass er gelernt hatte zu lügen, sich Heroin zu spritzen oder seiner Mutter den Schmuck zu klauen, sondern darin, gelernt zu haben, wie man risikofrei und effektiv einen Stoff verkaufte, der die Seele auffraß, den

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