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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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sein Herz ballte und zudrückte.
    Die gleiche Figur. Schlank und drahtig. Das gleiche Gesicht, herzförmig, mit den braunen, dunklen Augen und dem etwas zu breiten Mund, der so gerne lachte. Die langen Haare waren nahezu unverändert, einzig das Schwarz wirkte eine Nuance heller. Nur der Blick war verändert. In ihren Augen war ein Ausdruck, wie man ihn von gejagten Tieren kannte, erregt, wild. Als er auf Harry fiel, schien aber dennoch etwas zurückzukommen – was sie gewesen war, was sie gewesen waren.
    »Harry«, sagte sie. Und beim Klang ihrer Stimme kam der Rest, da war plötzlich alles da. Er machte zwei lange Schritte und drückte sie an sich. Der Geruch ihrer Haare. Ihre Finger auf seiner Wirbelsäule. Sie ließ ihn zuerst los, und er trat einen Schritt zurück und sah sie an.
    »Du siehst gut aus«, sagte sie.
    »Danke gleichfalls.«
    »Lügner.« Sie lächelte rasch, doch die Tränen standen bereits in ihren Augen.
    Sie blieben stehen. Harry ließ sich von ihr mustern, gestattete ihr, sein drei Jahre älteres Gesicht mit der neuen Narbe zu studieren. »Harry«, wiederholte sie, legte den Kopf zur Seite und lachte. Die erste Träne hängte sich zitternd an ihre Wimpern und ließ los. Zeichnete einen Streifen auf ihre weiche Haut.
    Irgendwo im Raum räusperte sich ein Mann mit einem kleinen Polospieler auf dem Hemd und sagte, dass er noch einen Termin habe.
    Dann waren sie allein.
    Während Rakel Kaffee kochte, sah er, wie ihr Blick seinen Metallfinger streifte, doch keiner von ihnen kommentierte ihn. Es war eine unausgesprochene Vereinbarung, den Schneemann nie zu erwähnen. Harry setzte sich stattdessen an den Küchentisch und erzählte von seinem neuen Leben in Hongkong. Er erzählte, was er erzählen konnte. Erzählen wollte. Dass sein Job als »Debitor-Berater« für Herman Kluit darin bestand, dessen Schuldner, die mit ihren Zahlungen in Verzug waren, auf eine freundliche Art und Weise auf ebendiese Tatsache hinzuweisen. Seine Beratung bestand im Großen und Ganzen darin, diesen Leuten zu raten, so schnell wie nur eben möglich zu zahlen. Harry erklärte, dass seine wesentliche und eigentlich einzige Qualifikation für diese Arbeit in seinen 193 Zentimetern von der Sohle bis zum Scheitel bestand, seinen breiten Schultern, den blutunterlaufenen Augen und seiner neuerworbenen Narbe.
    »Freundlich, professionell. Anzug, Schlips, multinationale Gesellschaften in Hongkong, Taiwan und Schanghai. Hotelzimmer mit Room Service. Schmucke Bürogebäude. Zivilisiert, mit privaten Konten in der Schweiz, wenn auch alles mit einem leicht chinesischen Touch. Westlicher Händedruck und standardisierte Höflichkeit, aber mit asiatischem Lächeln. In der Regel zahlen sie gleich am nächsten Tag. Herman Kluit ist auf jeden Fall zufrieden. Wir verstehen einander.«
    Sie schenkte ihnen beiden ein und setzte sich. Holte tief Luft.
    »Ich hatte einen Job beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag bekommen, mit Büro in Amsterdam. Ich dachte, wenn wir von diesem Haus weggehen, aus dieser Stadt, fort von all der Aufmerksamkeit, von …«
    Von mir, dachte Harry.
    »… den Erinnerungen, würde alles besser werden. Und für eine Weile sah es auch wirklich so aus. Aber dann ging es los. Am Anfang waren es einfach nur irrationale Wutausbrüche. Als kleiner Junge war Oleg ja nie laut geworden. Mürrisch ja, aber so … nie. Er hat mir ins Gesicht geschrien, dass ich sein Leben kaputtgemacht habe, als ich ihn aus Oslo fortgebracht habe. Und er hat das gesagt, weil er ganz genau wusste, dass ich mich gegen ihn nicht verteidigen kann. Und wenn ich zu weinen anfing, fing auch er zu weinen an. Dann hat er mich gefragt, warum ich dich abserviert habe, weggedrängt, schließlich hättest doch du uns vor diesem … diesem … gerettet.«
    Er nickte, so dass sie den Namen nicht zu sagen brauchte.
    »Dann kam er immer später nach Hause. Traf Freunde, die ich nie gesehen hatte. Einmal hat er mir eingestanden, in einem Coffee-Shop in der Leidseplein gewesen zu sein und Hasch geraucht zu haben.«
    »Inmitten all der Touristen?«
    »Genau, ich dachte mir, dass das vielleicht ein Teil von the Amsterdam experience war, aber trotzdem hatte ich Angst. Sein Vater … ja, du weißt ja.«
    Harry nickte. Wusste über Olegs russische Oberklassefamilie väterlicherseits Bescheid. Drogen, Wut und Depressionen. Dostojewski-Land.
    »Er saß viel allein auf seinem Zimmer und hörte Musik. Schwere, düstere Sachen. Aber du kennst diese Bands ja …«
    Harry

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