Die Larve
einmal erlöschen. Als sie schließlich gegangen war, hatte es dafür natürlich ganz andere Gründe gegeben. Bessere Gründe. Es entging Harry aber nicht, dass sie den Flohmarktring behalten hatte, versteckt in dem Schmuckkästchen, in dem sie die Erbstücke ihrer österreichischen Mutter aufbewahrte.
»Gehen wir raus, solange die Sonne noch scheint?«, fragte Rakel.
»Ja«, sagte Harry und erwiderte ihr Lächeln. »Lass uns das tun.«
Sie gingen über den Weg, der sich bis ganz nach oben auf den Berg schlängelte. Die Laubbäume im Osten waren so rot, dass sie zu brennen schienen. Das Licht spielte mit dem Fjord und verwandelte das Wasser in geschmolzenes Metall. Aber es war wie gewöhnlich das Menschgemachte der Stadt, das Harry in den Bann zog. Oslo sah aus wie ein Ameisenhaufen. Mit all den Häusern, Parks, Straßen, Kränen, den Booten auf dem Meer und den Lichtern, die in immer mehr Häusern eingeschaltet wurden. Die Autos und Züge auf ihren Wegen hin und her. Die Summe all der Dinge, die wir tun. Und die Frage, die sich nur der erlauben kann, der Zeit genug hat, innezuhalten, um die fleißigen Ameisen zu beobachten: Warum?
»Ich träume von Ruhe und Frieden«, sagte Rakel. »Nur davon. Und was ist mit dir, wovon träumst du?«
Harry zuckte mit den Schultern. »Von einem engen Flur oder Korridor, in dem ich mich befinde, und dann kommt eine Lawine und begräbt mich.«
»Uih.«
»Tja, du weißt ja, meine Klaustrophobie.«
»Manchmal träumen wir von Sachen, die wir gleichermaßen fürchten und uns wünschen. Zu verschwinden, begraben zu werden. In gewisser Weise gibt das auch Sicherheit, oder?«
Harry steckte die Hände tiefer in die Taschen. »Ich bin vor drei Jahren in eine Lawine geraten. Sagen wir, dass es so einfach ist.«
»Dann bist du deinen Geistern nicht entkommen, obwohl du bis nach Hongkong gereist bist?«
»Schon«, sagte Harry. »Die Reihen haben sich etwas gelichtet.«
»Ach ja?«
»Ja. Es ist wirklich möglich, Dinge hinter sich zu lassen, Rakel. Es kommt bei diesen Gespenstern darauf an, sie lange und intensiv genug anzuschauen, damit man erkennt, dass es bloß Gespenster sind. Das ist die Kunst. Tote, ohnmächtige Trugbilder.«
»So«, sagte Rakel in einem Tonfall, dem Harry entnehmen konnte, dass sie dieses Thema nicht mochte. »Irgendwelche Frauen in deinem Leben?« Die Frage kam leicht. So leicht, dass er der Leichtigkeit nicht traute.
»Nun.«
»Erzähl.«
Sie hatte sich die Sonnenbrille aufgesetzt, so dass er nicht erkennen konnte, wie viel sie wirklich hören wollte. Harry dachte, dass er diese Informationen gegen entsprechende Informationen von ihr eintauschen konnte. Wenn er die denn hören wollte.
»Sie war eine Chinesin.«
»War? Ist sie tot?« Sie lächelte verspielt. Er dachte, dass sie so aussah, als vertrüge sie die ganze Wahrheit. Dabei wäre ihm ein bisschen mehr Scheu eigentlich lieber gewesen.
»Eine Geschäftsfrau aus Schanghai. Sie pflegt ihr guanxi , ihr Netzwerk nützlicher Verbindungen, und nebenbei noch ihren steinreichen chinesischen Ehemann. Und – wenn es ihr in den Kram passt – mich.«
»Dann nützt du – mit anderen Worten – ihr Helfersyndrom aus?«
»Ich wäre froh, wenn ich das so sagen könnte.«
»Ach?«
»Sie stellt ziemlich spezielle Anforderungen an das Wo und Wann. Und Wie. Sie will …«
»Es reicht!«, sagte Rakel.
Harry grinste schief. »Du weißt ja, Frauen, die wissen, was sie wollen, haben mich schon immer schwach gemacht.«
»Genug, habe ich gesagt.«
»Kapiert.«
Sie gingen schweigend weiter. Bis Harry irgendwann dann doch die Worte aussprach, die wie superfette Schlagzeilen vor ihm in der Luft tanzten.
»Und was ist mit diesem Hans Christian?«
»Hans Christian Simonsen? Das ist Olegs Anwalt.«
»Ich habe bei Mordprozessen noch nie etwas von einem Hans Christian Simonsen gehört.«
»Er ist hier aus der Gegend. Wir waren im Studium im selben Semester. Er hat mir seine Hilfe angeboten.«
»Hm. Ach so.«
Rakel lachte. »Ich glaube, er hat mich im Studium ein oder zwei Mal eingeladen. Und mich gefragt, ob ich mit ihm einen Swing-Kurs mache.«
»O Gott, o Gott.«
Sie lachte noch lauter. Mein Gott, wie er sich nach diesem Lachen gesehnt hatte.
Sie stieß ihn an: »Du weißt ja, Männer, die wissen, was sie wollen, haben mich schon immer schwach gemacht.«
»Ja dann«, sagte Harry. »Und was haben die jemals für dich getan?«
Sie antwortete nicht. Das war nicht nötig. Stattdessen zog sie ihre kräftigen,
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