Die Larve
Onkels. Er war in Frankreich untergetaucht und wollte nur wissen, ob seine Frau schwanger sei oder nicht. Nachdem dies nicht der Fall war, hörte man in Tagil von dem Onkel über Jahre hinweg nichts mehr. Erst als seine Frau starb, kam er zur Beerdigung, erzählte mir Vater. Er bezahlte die teure, russisch-orthodoxe Beerdigung ganz allein und unterstützte die Bedürftigen seiner Familie. Vater gehört nicht dazu, aber der Onkel sprach mit ihm, um sich einen Überblick über die Verwandten seiner Frau in Tagil zu verschaffen. In diesem Zusammenhang wurde er auch auf den kleinen Sergej aufmerksam, seinen Neffen. Am nächsten Morgen war der Onkel wieder verschwunden gewesen, ebenso geheimnisvoll und unerklärlich, wie er gekommen war. Die Jahre vergingen, aus Sergej wurde ein Jugendlicher und dann ein Erwachsener. Die meisten dachten wohl, dass der Onkel – er war ihnen schon alt vorgekommen, als er nach Sibirien gekommen war – inzwischen gestorben und begraben war. Doch dann, Sergej war gerade wegen Haschschmuggels verhaftet worden, war plötzlich ein fremder Mann aufgetaucht. Ein Armenier. Er hatte sich als ein Strohmann des Onkels vorgestellt, alles für Sergej geregelt und ihm die Einladung des Onkels nach Norwegen überbracht.
Sergej sah auf die Uhr. Und stellte fest, dass exakt zwölf Minuten vergangen waren, seit er zuletzt einen Blick aufs Ziffernblatt geworfen hatte. Er schloss die Augen und versuchte ihn sich vorzustellen. Den Polizisten.
Es gab aber auch noch einen anderen interessanten Aspekt an der Geschichte über den angeblichen Tod des Onkels. Der Polizist, der sein Messer gestohlen hatte, war kurz darauf in der Taiga gefunden worden. Das heißt, das wenige, was von ihm noch übrig geblieben war, nachdem ein Bär sich über ihn hergemacht hatte.
Es war draußen und drinnen gleichermaßen stockdunkel, als das Telefon klingelte.
Es war Andrej.
Kapitel 10
T ord Schultz schloss die Tür seines Hauses auf, starrte ins Dunkel und lauschte eine Weile der kompakten Stille. Dann setzte er sich, ohne das Licht anzuschalten, auf das Sofa und wartete auf das vertraute Dröhnen des nächsten Flugzeugs.
Sie hatten ihn gehen lassen.
Ein Mann, der sich als Hauptkommissar vorgestellt hatte, war in seine Zelle gekommen, hatte sich vor ihm hingehockt und ihn gefragt, warum zum Henker er Kartoffelmehl im Gestänge seines Koffers transportiere?
»Kartoffelmehl?«
»Das behauptet jedenfalls das kriminaltechnische Labor der Kripos, wo das Material hingeschickt worden ist.«
Tord Schultz hatte wiederholt, was er seit seiner Festnahme immer wieder vorgebracht hatte. Seine Notprozedur, dass er von einer Tüte nichts wisse und keine Ahnung habe, was sich darin befinde.
»Sie lügen«, hatte der Hauptkommissar gesagt. »Und Sie können sich sicher sein, dass wir Sie im Auge behalten werden.«
Dann hatte er ihm die Zellentür aufgehalten und ihm mit einem Nicken zu verstehen gegeben, dass er gehen könne.
Tord schrak zusammen, als ein schriller Laut die Stille in dem kahlen, dunklen Raum zerriss. Er stand auf und tastete sich bis zum Telefon vor, das auf dem Holzstuhl neben der Trainingsbank lag.
Es war der Chef des Flugdienstes, der Tord mitteilte, dass er bis auf weiteres nicht mehr auf internationalen Flügen eingeteilt werden würde, sondern nur noch auf domestic flights .
»Warum das denn?«, fragte Tord.
Der Flugchef sagte, die Leitung habe dies so beschlossen.
»Sie verstehen doch wohl, dass Sie bei dem Verdacht, der aktuell gegen Sie besteht, nicht für internationale Flüge in Frage kommen.«
»Und warum teilen Sie mich dann nicht gleich für den Bodendienst ein?«
»Also.«
»Also was?«
»Wenn wir Sie suspendieren und Ihre vorübergehende Festnahme irgendwie publik wird, würde das dann ja so aussehen, als würden auch wir Ihnen nicht vertrauen. Äh … verstehen Sie?«
»Vertrauen Sie mir denn?«
Es blieb eine Weile still, ehe er antwortete.
»Würden wir einräumen, dass wir einen unserer Flugkapitäne des Drogenschmuggels verdächtigen, würde das der Fluggesellschaft großen Schaden zufügen, meinen Sie nicht auch?«
Ich verstehe.
Die restlichen Worte des Flugleiters gingen im Lärm einer TU -154 unter.
Tord legte auf.
Er tastete sich zurück zum Sofa und setzte sich. Fuhr mit den Fingern über die Glasplatte des Couchtischs und ertastete die Flecken. Angetrockneter Schleim, Speichel, Reste von Kokain. Was jetzt? Ein Drink oder eine Line? Ein Drink und eine Line?
Er stand auf. Die
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