Die Launen des Teufels
Gähnen unterstrich er diese Beschwerde und legte augenblicklich den Kopf an Anabels Schulter. Lachend fuhr die junge Frau durch seinen zerzausten Schopf und sprang auf die Beine.
Ein leises Weinen vom Fußende des Bettes ließ sie Bertram vorübergehend vergessen, und sie beugte sich über die Krippe, um den kleinen Wulf aus seinem Bettchen zu befreien. Als sie dem strampelnden Knaben das Fläschchen gegeben und seine verschmutzte Windel gewechselt hatte, saß Bertram bereits beim Frühstück, das er gierig in sich hinein stopfte. Wenngleich die Vorräte auf ihrem Wagen genügt hätten, um eine Großfamilie zu ernähren, nutzte Bertram jede Gelegenheit, um zu essen. Vermutlich hatte man ihn im Gefängnis halb verhungern lassen, dachte Anabel und zwängte sich mit Wulf auf dem Arm neben ihn auf die Bank.
Kauend hob Bertram die Rechte und strich dem Kind liebevoll über die weiche Wange, bevor er mit dem Löffel abermals in die graue Pampe fuhr. Sobald Anabel ihm die Hintergründe erklärt hatte, hatte er den kleinen Jungen mitleidig an sich gedrückt und geschworen, ihn mit seinem eigenen Leben zu beschützen. Das hilflose Kind schien ihm dabei zu helfen, die Trauer über den Tod seines Vaters zu vergessen, die ihn in den ersten beiden Nächten immer wieder mit solcher Gewalt übermannt hatte, dass Anabel befürchtet hatte, er könne an den Tränen ersticken.
»Wir brechen auf!«, unterbrach der ausländisch gefärbte Tenor des Weinhändlers, dessen mächtige Gestalt beinahe den gesamten Türrahmen ausfüllte, ihre Gedanken. Augenblicklich erhob sich ein hektisches Hin und Her und innerhalb kürzester Zeit waren alle Pferde, Ochsen und Kühe angespannt. Der durchdringende Stoß eines Waldhornes verkündete die Abfahrt, doch es dauerte einige Zeit, bis die Reihe an Anabels Gefährt kam. Während sich der Horizont allmählich mit dem rosafarbenen Schimmer der Dämmerung überzog, schlängelte sich der endlose Zug der Karren den ersten Anstieg hinauf, dem noch viele weitere folgen würden.
Einen halben Tag später, als die bleiche Wintersonne den höchsten Punkt des Himmels erreicht hatte, gab der Anführer des Zuges das Zeichen zur Rast, woraufhin sich die Wagen auf den Befehl der Reiter hin zu mehreren schützenden Kreisen anordneten, in deren Innerem Feuer entfacht wurden. Schon bald lag der würzige Duft von Braten und Suppe in der Luft, und während Anabel genüsslich an einem Stück Schinken knabberte, fragte sie sich, wie lange ihre Anwesenheit den Bewohnern der Gegend wohl verborgen bleiben würde. Da die meisten der Bergrücken und Täler mit einem dichten Waldteppich bedeckt waren, kam es ihr beinahe vor, als befänden sie sich in einem unbesiedelten Land – was sich jedoch schon bald als Irrtum herausstellte.
Sie war gerade dabei, die Ochsen wieder anzuschirren, als unvermittelt schrille Pfiffe durch die kalte Luft gellten. Zuerst hielt sie die Laute für Signale der Händler, doch als sich ein Armbrustbolzen dicht vor ihr in den vereisten Boden grub, duckte sie sich mit einem entsetzten Schrei hinter eines der Karrenräder. Dem Geschoss folgte ein wahrer Hagel aus surrenden Pfeilen, und schon bald sanken die ersten Zugtiere getroffen zu Boden.
»Was zum Henker …?«, fluchte Bertram, der auf allen Vieren an ihre Seite robbte und sie schützend in die Arme schlang.
»Gesetzlose«, zischte ein Mann dicht neben ihnen, der sich seinen kostbaren Pelzgewändern zum Trotz in den Schnee unter seinem Fuhrwerk presste. »Die Wälder wimmeln geradezu von diesem Pack.«
Eine unheimliche Stille senkte sich über die Reisenden, als der Beschuss ebenso unverhofft abriss, wie er eingesetzt hatte. Einige angespannte Augenblicke geschah nichts, bevor sich von dem Waldrand zu ihrer Linken eine Horde brüllender Angreifer löste, die Prügel und Äxte schwingend auf die Reisenden zuschwappte. Lediglich vereinzelt lösten einige von ihnen noch im Laufen einen Schuss, eine Tatsache, welche die Bewacher der Händler dazu nutzten, um ebenfalls die Armbrüste anzulegen.
Noch bevor die ungeordnet durcheinanderstolpernden Gesetzlosen die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, brach die vorderste Reihe von Pfeilen durchbohrt in die Knie, woraufhin die Hintermänner in alle Richtungen auseinander spritzten. Führerlos suchten sie hinter Büschen und Felsbrocken Schutz vor den zielsicher abgefeuerten Bolzen der Ritter, die ein Blutbad unter denjenigen anrichteten, denen es nicht gelang, rechtzeitig in Deckung zu gehen.
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