Die Launen des Teufels
Ruhe die Gewalt über ihre Glieder zurück, sodass es ihr schließlich gelang, ohne weitere Zwischenfälle die Glockenhütte zu erreichen. Dort wollte sie gerade die Tür aufstoßen, als sich eine Hand aus der Dunkelheit um ihren Arm schloss und sie um die Ecke zog, wo sie im Licht der selbst hier noch sichtbaren Lohe in Bertrams besorgte Züge blickte. Das pechschwarze Haar stand in zerzausten Zacken von seinem Kopf ab, den er leicht schräg gelegt hatte, um sie unter halb gesenkten Lidern hervor zu mustern.
»Anabel«, flüsterte er nach einer kurzen Zeit der schweigenden Betrachtung und ließ die Hände an ihren Armen hinauf zu ihren Schultern wandern, die unter der Berührung zusammenzuckten. Obschon sie ihn in der ersten Schrecksekunde am liebsten von sich gestoßen hätte, raubte ihr die Liebe in seinem Blick so urplötzlich alle Widerstandskraft, dass sie spürte, wie sich Schwäche in ihr ausbreitete. Nach einigen stockenden Atemzügen gab sie mit einem unterdrückten Schluchzen dem Gefühl der Mutlosigkeit nach und ließ zu, dass er die Arme um sie schlang und das Kinn in ihr nach Ruß und Feuer riechendes Haar grub. »Ich liebe dich so sehr«, murmelte er und wiegte ihren von Weinkrämpfen geschüttelten Körper, der in seinen Armen zu zerbrechen drohte. »Egal, was geschehen ist, ich werde dich niemals verlassen.« Beinahe glühend brannten seine Handflächen auf dem dünnen Stoff ihres Kleides, und während sich all die Trauer, Scham und Verzweiflung Bahn brachen, gestattete sie sich einen süßen Moment lang die Hoffnung, dass die überwältigende Liebe zu Bertram alle Hindernisse aus der Welt zu schaffen vermochte.
Zitternd grub sie die Hände in seinen groben Leibrock und weinte und weinte, bis die Tränen schließlich von selbst versiegten und sie sich mit geröteten Augen von ihm löste, um zu ihm aufzublicken. Der schmerzvolle Ausdruck auf seinen Zügen zog ihr Herz zusammen, und als auch er sich mit einem schiefen Lächeln eine Träne von der Wange wischte, hätte sie um ein Haar erneut die Fassung verloren.
»Anabel.« Er schluckte mühsam und führte eine ihrer kalten Hände an die Lippen. »Lass uns fliehen. Wie werden uns auch ohne Geld durchschlagen.« Die Überzeugung verlieh diesem Wunsch einen beinahe verlockenden Klang. Doch wenngleich Anabel einen kurzen Moment ihren innersten Sehnsüchten nachgegeben hatte, konnte sie ihn nicht dazu verdammen, seine Liebe an eine gefallene Frau zu verschwenden. Mit einer energischen Bewegung befreite sie sich aus seinem Griff und erwiderte mit einem Seufzen: »Ich kann nicht mit dir kommen. Du würdest dich für immer verwünschen.« Sie hielt inne und blinzelte die erneut in ihren Augen aufsteigenden Tränen zurück. »Bitte, Bertram.«
Ohne darüber nachzudenken, hatte sie schützend die Arme vor der Brust verschränkt, und als Bertram Anstalten machte, sie erneut an sich zu ziehen, wich sie einen weiteren Schritt zurück. »Geh ohne mich«, drängte sie und warf einen Blick zurück die Gasse entlang, an deren Eingang soeben eine Handvoll aufgekratzter Zecher vorbeitorkelte. »Niemand wird in diesen Zeiten nach dir suchen. Sie haben alle viel zu viel Angst vor der Pest.« Damit schob sie die Hand unter die wollene Glocke und beförderte sie kurz darauf mit silbernen Pfennigen gefüllt wieder zutage. »Nimm das.«
Während Bertram mit vor Verblüffung offenem Mund auf ihre Handfläche starrte, kämpfte Anabel gegen den sich immer weiter verhärtenden Klumpen in ihrer Magengrube an, der seit dem Tag, an dem sie ihre Ehre verloren hatte, zu einem ständigen Begleiter geworden zu sein schien.
Mit einer fahrigen Bewegung streckte Bertram die Rechte aus und schloss die Finger um Anabels Hand, die er behutsam zu einer Faust formte. »Ohne dich gehe ich nirgendwo hin«, versetzte er heiser und bohrte den trotz der Verunsicherung forschenden Blick in ihre verweinten Augen. »Ich wünschte, du würdest mir vertrauen.« Er stieß frustriert die Luft durch die Nase. »Aber ich werde warten, bis du bereit bist.« Damit wollte er sich niedergeschlagen von ihr abwenden, doch als das Licht des Feuers auf sein Profil fiel, durchfuhr Anabel ein Stich des Gewissens.
»Warte«, bat sie müde und schüttelte traurig den Kopf, als sie die Hoffnung auf Bertrams Zügen bemerkte. »Es geht um deinen Vater«, sprang sie mit dem Kopf voraus in das kalte Wasser, welches das längst fällige Geständnis für sie darstellte. »Ich glaube, ich bin ihm vor einigen Wochen
Weitere Kostenlose Bücher