Die Launen des Todes
neun Uhr fünfundvierzig war, obwohl seine biologische Uhr ihm sagte, es müsse bereits Mittag sein, dann streckte er den Arm aus und griff sich
Dunkle Zellen
.
Er überflog die Einleitung, in der die Autorin versicherte, es handle sich hier um eine ernsthafte, tiefgründige Analyse der interdependenten Beziehung zwischen Strafrechtstheorie und der Praxis der Einkerkerung; eine Behauptung, die irgendwie dem Klappentext widersprach, der den Kitzel des Bösen versprach, das in diesem
knallharten Bericht schonungslos offengelegt wird; eine verstörende Analyse über das Versagen unseres Gefängnissystems. Ein Buch, das nichts für schwache Nerven ist; der Leser wird mit den bösartigsten Mitgliedern unserer Gesellschaft konfrontiert und sollte sich darauf gefasst machen, zutiefst schockiert und empört zu sein!
Das perfekte Gegengift zu Weihnachten, dachte er. Er ging in den Flur und holte aus dem Regal im Schrank unter der Treppe seine private Roote-Akte. Dalziel hatte sie auf seinem Schreibtisch im Büro gesehen und zweifellos auch die Schublade registriert, in der er sie hatte verschwinden lassen. Die Schublade besaß wie die Tür zu seinem Büro ein kräftiges Schloss, doch Pascoe hätte keine Sixpence dagegen gewettet, dass der Dicke beide Hindernisse einfach durchbrach. Also hatte er sie noch am selben Tag mit nach Hause gebracht.
Erneut ließ er sich nieder, entnahm der Akte Rootes ersten Brief und blätterte ihn durch. Hier war es …
Ich bin übrigens Inhaftierter XR , S. 193–207 …
Er nahm
Dunkle Zellen
zur Hand, schlug Seite 193 auf, wo die Autorin wirklich ihre Fallstudie zum Inhaftierten XR begann.
Nach den Erläuterungen zu seinem Vergehen und seiner Strafe kam Ms. Haseen ohne Umschweife auf ihre Sitzungen mit Roote zu sprechen.
Seine schriftlich fixierten Aussagen während der Ermittlungen, das im Lauf seines Gerichtsverfahrens erstellte psychologische Gutachten sowie alle nachfolgenden Berichte über sein Verhalten nach der Verurteilung weisen signifikant darauf hin, dass ich es hier mit einem höchst intelligenten Menschen zu tun hatte, der über ein genügend hohes Maß an Selbstbeherrschung verfügte und seine Intelligenz dazu einsetzte, seinen Gefängnisaufenthalt so kurz und komfortabel wie möglich zu gestalten. Obwohl ich mir überaus bewusst war, dass hinsichtlich der Analysemethoden hier äußerst behutsam vorgegangen werden musste, war mir bei unserem ersten Treffen nach nur wenigen Minuten relativ klar, dass die nachfolgende Analyse die Korrektheit dieser ersten Eindrücke bestätigen würde.
Mein Gott, was für ein Schwulst! Kein Wunder, dass das Buch verramscht worden war!
Von Anfang an war ihm daran gelegen, deutlich zu machen und, falls ich seine Intention falsch verstanden hatte, auch zu betonen, dass er sich in unseren Sitzungen einzig und allein an meine Bedingungen hielt. Im Gegensatz zu vielen anderen (siehe Inhaftierten JJ , S. 104ff, und Inhaftierten PR , S. 184ff) zeigte er nie offenkundig, dass er mich als sexuelles Objekt wahrnahm, und ebenso wenig ergriff er, wenn meine Untersuchung Themen berührte, die seine Sexualität betrafen, dies als Gelegenheit, um darüber ein Gespräch zu beginnen, dessen Ziel es war, sich selbst zu erregen (siehe Inhaftierten AH , S. 209ff). Trotz dieser strikten Anstandsregeln hatte ich jedoch häufig das Gefühl, dass die Atmosphäre zwischen uns im sexuellen Sinn höchst geladen war.
Darauf kannst du deinen süßen Arsch wetten!, dachte Pascoe.
Das stimmte mit meinem sich herausbildenden Urteil überein, dass sich der Inhaftierte XR unter dem Vergrößerungsglas der Einzelanalyse als ein schwieriger Fall erweisen würde. Er war offensichtlich entschlossen, mir keinerlei Einsicht in seine Psyche zu gewähren, die dem widersprechen könnte, was er als das einzige, wirklich wichtige Ziel unserer Sitzungen sah, nämlich seine schnelle Verlegung vom Chapel Syke in den offenen Strafvollzug und seine anschließende vorzeitige Entlassung.
Sie mochte eine lausige Schriftstellerin sein, die gute Amaryllis, dachte Pascoe, aber wenigstens verstand sie sich auf ihren Job. Mal sehen, ob sie es auch schaffte, ihm wirklich auf den Pelz zu rücken. Was aber nicht sehr wahrscheinlich war, nachdem er sich daran erinnerte, dass es Roote selbst gewesen war, der seine Aufmerksamkeit auf das Buch gelenkt hatte.
Unsere ersten Gespräche trugen daher den Charakter vorläufiger Geplänkel, deren wichtigste Funktion in seinen Augen darin lag, die
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