Die Laute (German Edition)
wirklich verstehen zu wollen.
Neugierig und auch ein wenig ängstlich beobachtet Asis, wie die Wörter ihm fremd werden. Er gebraucht sie noch, und manche hört er noch mit seinem inneren Ohr, aber sie sind ihm nicht mehr selbstverständlich.
Inzwischen denkt und träumt er in Gebärden. Die Dinge, vor allem Hände und Gesichter sprechen nun direkt zu ihm. Sicher haben sie auch vorher schon ›gesprochen‹, aber das Wort war lauter, deswegen hat er seinem Ohr mehr getraut als seinem Auge. Nun sieht er nicht nur, sondern fühlt unmittelbar, ohne erst nach einem Wort zu suchen, was in dem anderen vorgeht, Wut, Trauer, Entgegenkommen, Anteilnahme, Gleichgültigkeit.
Er weiß, es gibt die Welt der Klänge und Töne noch. Er sieht sie, spürt ihre Schwingungen. Aber von ihren Feinheiten ist er durch eine Wand aus Panzerglas getrennt.
Er sitzt im Sammeltaxi und ist auf dem Weg nach Ibb. Seine Mutter liegt im Krankenhaus. Es muss etwas Ernstes sein, sonst hätte sein Vater nicht bei Ali angerufen.
Bergauf machen ihm die Serpentinen nichts aus. Elend fühlt er sich nur, wenn er an Zuhause denkt. Länger als ein Jahr war er nicht mehr in Ibb.
Ist der Mann, der ihm am Abend müde die Tür öffnet, noch sein Vater? Er begrüßt Asis freundlich, doch ohne Wärme. Schon früher, als Asis noch ein Kind war, zeigte sich sein Vater zwar als ein gerechter, aber auch verschlossener und nur selten zärtlicher Mann. Nie erfuhr Asis eine liebevolle Geste, als fürchtete sein Vater, sie könne als Schwäche ausgelegt werden. Und nun, da Asis nur noch die Gesten versteht, erscheint ihm der Vater fremder denn je. Er gibt seinem Sohn keinerlei Möglichkeit, ins Innere seines Herzens vorzudringen, ebenso wenig bemüht er sich, am Innersten seines Sohnes teilzuhaben. Er behandelt ihn nach wie vor wie das Kind, das er vor dem Ereignis war. Aber schon damals wusste sein Vater so gut wie nichts von ihm. Nicht, weil es ihn nicht interessiert hätte, sondern weil sie auch da schon keine gemeinsame Sprache mehr hatten. Und nun kommt es Asis so vor, als sei in Wahrheit dieser fremde Mann der Taubstumme in der Familie.
Sie lächelt und versucht, Asis in den Arm zu nehmen. Aber Asis bleibt reglos neben seinem Vater am Bettrand stehen. Ihr Gesicht ist graublau, und ihr Haar sieht aus wie nasses schwarzes Gras. Die Ärzte haben ihnen noch immer nicht gesagt, an welcher Krankheit seine Mutter leidet. Vielleicht wissen sie es ja selbst nicht. Aber Asis sieht, dass diese Frau auf dem Laken vor ihm das Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen wird. Er schämt sich für diesen Gedanken, liegt doch die Zukunft allein in Gottes Hand.
Er wirft einen Blick auf seinen Vater, der genauso stumm dasteht wie er selbst. Er gibt ihm ein Zeichen, dass er auf dem Gang warten wolle. Sein Vater schüttelt den Kopf. Also bleibt Asis neben ihrem Krankenbett stehen. Seine Mutter greift erneut nach seinen Händen, hält sie fest und lächelt, während der Junge und der Mann schweigen.
In der folgenden Nacht träumt Asis, dass er wieder im Krankenzimmer seiner Mutter steht. Doch statt seiner Mutter liegt ein großer graublauer Hai mit grünen Augen im Bett. Er ist noch ganz nass, Salzwasser sickert in die Matratze und tropft auf die fleckigen Fliesen.
Und plötzlich ist er selbst ein Fisch, kleiner als der Hai, und das Krankenzimmer steht unter Wasser. Seine Mutter verlässt das Bett, schwimmt auf ihn zu, dann reißt sie das Maul mit hunderten kleiner messerscharfer Zähne auf, aber nicht gierig, sondern eher so, als wolle sie ihn umarmen.
Er schwimmt davon. Als er sich nach ihr umblickt, sieht er, dass ihm keine Gefahr mehr droht. Eine hohe Glaswand trennt sie. Er steht auf eigenen Füßen auf dem Trockenen, nur sein Fischkopf erinnert noch daran, dass er einmal Flossen und Kiemen besaß. Seine Mutter schaut ihn durch das dicke Glas aus großen trüben Augen an.
Bevor er nach Aden zurückkehrt, gehen sein Vater und er noch einmal zum Krankenhaus. Sein Vater trägt seine Freitagssenna, als wolle er zum Gebet in die Moschee.
Seine Mutter liegt noch im selben Zimmer. Doch ihre Bettnachbarn haben gewechselt. Sind inzwischen entlassen worden oder gestorben.
Seine Mutter sieht genauso aus wie beim letzten Besuch. Nur ihr Haar wirkt frischer. Seine Schwestern haben es der Mutter am Vortag gewaschen. Nun scheint es einer ganz anderen Frau zu gehören.
Sie haben ihr Süßigkeiten mitgebracht. Doch als sie sich nach einer halben Stunde Schweigen verabschieden, drückt sie
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